Dicker Nebel im Unterland. Je weiter sich der Bernina Express von Chur entfernt und je länger die Schlangenlinienfahrt dauert, umso heller wird es. Und dann: Prächtiger Sonnenschein, die Welt weiss. «Punt Muragl, fermada sün dumonda», sagt die Frauenstimme übers Zugmikrofon.


Bernadette Kaiser erwartet die Journalistin, die als Einzige aussteigt an der Talstation des Muottas Muragl, der gewaltigen Aussichtsterasse im Oberengadin. Zu Fuss begeben sich die Frauen zum Acla (Hof) Muragl, der einer Erbengemeinschaft gehört und von den Kaisers seit 1991 bewirtschaftet wird. Bei Bernadette Kaiser fällt einem sofort ihr heller, unverfälschter Thurgauer Dialekt auf. Sie wuchs mit vier Brüdern auf einem Bauernhof in der Gemeinde Tobel auf, absolvierte die Lehre als Pflegefachfrau und wollte zu jener Zeit alles, nur keinen Bauern heiraten.


Definitiv raus aus dem Nebel
Auf einem Gutsbetrieb in Tobel arbeitete ein junger Engadiner als Angestellter, der Sepp Kaiser. «Irgendwie haben wir uns kennengelernt», sagt die Thurgauerin schmunzelnd. Beide gingen weiter ihrem Beruf nach und heirateten. 1985 wurde Martina geboren, heute Primarlehrerin in Sils, und 1986 Flurina, die als Koch in Stuttgart lebt und arbeitet. 1989 wurde Roman geboren, der heute als Kitesurf-In­struktor in der halben Welt herumreist. Während des Interviews rief er an aus Brasilien.


Während vier Jahren haben Kaisers als Verwalterehepaar das Altersheim Lutzenberg im Appenzellerland, dem ein Bauernbetrieb angeschlossen war, geführt. Bernadette Kaiser war zuständig fürs Heim mit rund 30 Bewohnern und ihr Mann für den Landwirtschaftsbetrieb. «Es gefiel uns dort, wir waren glücklich, beide engagiert und hatten die Kinder trotzdem um uns», blickt die Bäuerin zurück. Auf die Frage, weshalb sie denn weggegangen seien, antwortet sie: «Weil Sepp Heimweh hatte: nach den Bergen, nach der Sonne, nach dem Schnee, nach dem Engadin.» Er musste raus aus dem Nebel. Verständnisvoll fügt sie an: «Es dauerte nicht lange, und ich habe ihn verstanden, denn ich möchte auch für immer hier oben bleiben.»


Als sie 1991 die Pacht in Pontresina übernahmen, mussten sie von vorne anfangen. Auf dem 40 Hektaren grossen Hof betreiben sie heute Mutterkuhhaltung (bis vor 13 Jahren Milchwirtschaft), halten rund 60 Hühner, und Sepp Kaiser führt mit seinen drei Haflingern Touristen ins Roseggtal. Natura-Beef, Salsiz und Trockenfleisch verkaufen sie direkt an Stammkunden.

Nebenerwerb: Hausabwart
Halbjährlich lassen Kaisers den Hühnerkot kontrollieren. So ist es ihnen möglich, Eier in die Sennerei zum Weiterverkauf und an eine Stammkundschaft zu verkaufen. Der Bäuerin ist Gesundheit für Mensch und Tier  überhaupt wichtig. Sie besucht Kurse in Homöopathie und kommuniziert ihrer Kundschaft ihre Anstrengungen.


Acla Muragl ist eingekreist von zehn Ferienhäusern, die Kaisers als Hausabwarte betreuen. «Früher habe ich noch geputzt», sagt Bernadette Kaiser, «aber das wurde mir zu viel.» Seit 13 Jahren arbeitet sie rund 60 Prozent in einem Alters- und Pflegeheim in Samedan als Pflegefachfrau.


Eine Gegend mit Knacknüssen
Nachdem sie im Oberengadin Fuss gefasst hatte, trat sie dem Landfrauenverein Oberengadin bei. Sechs Jahre setzte sie sich ein im Vorstand, weitere neun Jahre als Präsidentin. Sie kann es jetzt noch kaum fassen, dass der Verein letzten Frühling aufgelöst werden musste. Es sei eine Tat der Verzweiflung gewesen, denn sie hätten keine Präsidentin und keine Vorstandsmitglieder mehr gefunden. An Versammlungen, Reisen und Kursen habe kaum noch jemand teilgenommen. «Wir sind hier nicht im Unterland», erklärt die Bäuerin, «wo wir in einer Viertelstunde an ein Ziel gelangen.» Von Chinuoschel nach Sils bis ins Fextal seien es Riesendistanzen. Besonders im Winter.


Es gebe immer weniger Bauernhöfe, und entweder der Mann oder die Frau müsse auswärts arbeiten oder eine Ferienwohnung auf dem Hof vermieten, weil die Landwirtschaft zu wenig her gebe für eine Familie. «Wir leben in einer der schönsten Gegenden der Schweiz, aber diese bietet auch ihre Knacknüsse», sagt die Landfrau.

Benildis Bentolila