Die beiden Jüngsten schleppen ihre Taschen zum Auto. Mein Mann verstaut darin unser vielfältiges Gepäck. Die Dächlikappen fehlen, ich spurte nochmals ins Haus. Dann endlich brummt der Motor, und wir biegen um die erste Kurve (nicht ahnend, wie viele noch folgen werden). Bevor wir von Kinder-CDs beschallt werden, hören wir noch schnell die Verkehrsdurchsage. Die Route ist klar. Über den San Bernardino Richtung Süden. Ich bin ebenfalls ganz zappelig. Ein paar Tage Kopfdurchlüften, Abschalten, Auftanken, so dringend ersehnt, sind nun endlich greifbar.
Die erste Bisipause wird erst in Vira verlangt. Wunderbar. Und es reicht gar noch für ein erstes Bad im Lago Maggiore. Dann starten wir zur Bergetappe. 170 Kurven bis zur Alp Neggia, danach den Berg auf der anderen Seite wieder hinunter. Unser gemietetes Häuschen empfängt uns kurz vor Indemini.
Nebel zieht am Abend auf. Ist mir egal. Ich habe den Alltag bereits auf dem Pass hinter mir gelassen. Die Welt da draussen ist fern. Zeit. Musse. Umelampe. Keine Zeitung, kein Radio, kein Fernseher, kein Telefon. Geruhsamer Schlaf trotz harter Matratze. Genüssliches Cappuccino-Schlürfen mit einer Torta die Pane dazu. Pizza schmausen. Abends ein Glas Wein. Lesen. Bis tief in die Nacht Gespräche. Nur mein Mann und ich (die Buben sind jeweils so müde, dass sie freiwillig unter die Decke kriechen). Und Laufen.
Bereits am ersten Tag sind wir sieben Stunden unterwegs. Das anfängliche Murren von Joachim legt sich schnell. Der Weg, trotz steilem Aufstieg, bietet zu viel
Abwechslung. Und unseren Vierjährigen müssen wir nur zweimal kurz auf den Schultern tragen. Unterwegs füllen wir uns den Bauch mit Heidelbeeren. Geniessen die Aussicht, Kapellen, verlassene Steinhäuser (bei welchen sogar Joachim rätselt, wie die erbaut wurden), Kühe und Geissen. Wir wandern um einen Stausee oder einen steilen Weg ins Flusstal hinab.
Überall treffen wir an den Wegen auf Heiligenbilder, die eine überraschende Faszination auf die Buben ausüben. Dazwischen gibt es Abstecher an den See
oder an die Verzasca. Zum Steineklettern und Stauen.
Zufrieden und wehmütig räumen wir nach fünf Tagen unseren Unterschlupf. Wieder über dem Pass, gucken wir verdutzt auf Hänge, die ihren alten Standort mit einem Rutsch verlassen haben. Die Flüsse führen braune Brühe in überraschender Höhe. Wir sehen noch stehende Getreidefelder in unerfreulichen Braungrautönen. Regentropfen prasseln an die Autoscheiben und die Jungen in den Schlaf. Wir schalten das Radio ein und werden blitzartig zurück ins Weltgeschehen katapultiert. Wir hören von Unwettern und dramatischen Überschwemmungen. Überrumpelt schauen wir uns an.
Wieder zu Hause, empfängt uns kein frischer Blumen- oder Heuduft. Dem Garten entströmt eine modrig-faule Note. Kopfschüttelnd schauen uns die drei Daheimgebliebenen an. Nicht fassend, dass die einschneidenden Geschehnisse unwissentlich an uns vorbeigezogen sind.
Mein gelegentlicher Vorwurf an sie, dass sie sich zu sehr in ihrem Pubertätskokon einmümmeln und die Realität ausschliessen, mutiert nun zum Eigengoal.
Sabine Nussbaumer