Was treibt einen über 60-Jährigen an, anstatt seines Urlaubs, sich bei einem Bergbauern im Berner Oberland als freiwilliger Helfer einzubringen? Sicherlich nicht das Wetter, denn der in Zeitnot geratene Bergbauer gab mir, auf meine Anfrage, was ich mitbringen soll, zur Antwort. «Schönes Wetter zum Heuen.»

Und schon war ich mittendrin, was das Arbeiten eines Bergbauern bestimmt. Er muss sich immer nach dem Wetter ausrichten. In diesem Jahr hat es zu viel und zu oft geregnet. Im Vertrauen auf den Wettergott fahre ich, bei schlechtem Wetter, in Stuttgart los in Richtung Berner Oberland. Und wie gewünscht begrüssen wir uns am Sonntag
nachmittag bei Sonnenschein in Ringgenberg bei Interlaken. Ein Auftakt nach Mass.

Wiederholungstäter

Als Wiederholungstäter habe ich mich auf den anstrengenden Arbeitseinsatz ordentlich vorbereitet. Da die Bäuerin krankheitsbedingt nicht auf dem Feld und Stall mitarbeiten sollte, dafür aber die besten und schmackhaftesten Gerichte liebevoll auftischte, war mir schnell klar, was der umsichtige und tüchtige Bauer von mir erwartet. «Hemdsärmel hochkrempeln, in die Hände spucken und anpacken.»

Der gleichaltrige Bauer, erfahren im Umgang mit freiwilligen Helfern, schenkt mir sein Vertrauen und teilt mir Arbeiten zu, die ich zum Teil noch nie gemacht hatte. «Trau es dir einfach zu, ich zeige dir, wie das geht», gibt er mir Rückendeckung. Ein Beispiel für eine solche Arbeit will ich erläutern.

Wildheuen


Ringgenberg war früher ein Wildheuerdorf. Das Heu der oberen Regionen, wo es keine Zufahrtsstrassen gibt, wird Wildheu genannt. Der damalige Transport des Heus in die Scheunen erfolgte durch Tragen auf den Schultern in sogenannten Heunetzen. Eine sehr anstrengende und nicht einfache Arbeit, da das Heubündel voluminös und schwer war.

Schon beim Studieren der Caritas-Anzeige faszinierte mich das Bild, wo ein Bergbauer ein solches Heubündel auf den Rücken nimmt.

Ich will die Erfahrung machen, ob ich auch dazu in der Lage wäre, ein Heubündel zu tragen. Und tatsächlich ergibt sich die Gelegenheit. An einem Steilhang, den wir morgens gemäht hatten, bringen wir das fertige Heu an einen Platz, legen das Heunetz aus und unter fachmännischer Anleitung des Bergbauern entsteht ein etwa 40 kg schweres kompaktes Heubündel. Wie gut der Bauer das Bündel geschnürt hatte, merke ich, als die Last auf meine Schultern liegt. Das Gewicht ist gleichmässig verteilt, und ich bringe problemlos das Bündel in die 100 Meter entfernte Scheune.

Der Bauer meinte anerkennend, das hätte bislang noch kein Freiwilliger geschafft. Diese notwendige Arbeit kann nur im gegenseitigen ergänzenden Einbringen aller Fähigkeiten gelingen. Der Bauer, als erfahrenen Kenner, schnürt das Bündel und ich, als motivierter und kräftiger Helfer, trage das Heu in die Scheune.

Wiedersehen

Besser und zutreffender kann ich die zwei Wochen, die ich in Ringgenberg mitgewirkt habe, nicht beschreiben. Mit Motivation, Willen und Einsatzbereitschaft habe ich mich nach Kräften bemüht. Offenbar sind die Bauersleute nicht unzufrieden gewesen, denn ich darf im nächsten Jahr gerne wiederkommen. Ich spüre, ich bin am richtigen Ort bei den richtigen Personen. Mir hat der Arbeitseinsatz gut getan. Gestärkt an Leib und Seele verlasse ich Ringgenberg in Richtung Stuttgart.


Martin Lambrecht, Stuttgart-Stammheim (D)