Herr Hunziker, sind alte Obstsorten pure Nostalgie oder haben sie heute auch noch eine andere Bedeutung?

Alte Obstsorten sind weit mehr als nur Nostalgie und in mancherlei Hinsicht von grosser Bedeutung. Sie haben sich über Jahrhunderte an die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen in der Schweiz angepasst und sind deshalb wichtig für unsere Ernährung und die Nahrungssicherheit. Das Erhalten der genetischen Vielfalt ist Voraussetzung, damit kommende Generationen auf sich verändernde Faktoren wie Konsumentenwünsche, Produktionsformen, klimatische Bedingungen, Schädlinge und Krankheiten etc. reagieren können. Alte Sorten sind somit eine wichtige Basis für künftige Neuzüchtungen oder anderweitige Nutzungsformen.

Was zeichnet die alten Sorten sonst noch aus?

Sie bieten eine enorme Vielfalt an Formen, Farben, Aromen und Inhaltsstoffen und viele von ihnen sind etwa von Brennereien oder der Gourmetküche sehr gesucht. Auch enthalten alte Obstsorten oftmals erhöhte Konzentrationen an gesundheitsrelevanten Sekundärstoffen, wie z.B. Polyphenolen. Das kann sie etwa für Leute mit Allergien interessant machen. Obst ist aber auch Kulturgut, das von der Schweizer Geschichte geprägt wurde. Die Obstsorten der Ostschweiz unterscheiden sich traditionell von jenen der Innerschweiz, jene wiederum vom Wallis etc. Erstaunlicherweise konnten sich diese regionalen Sortimente teilweise bis heute erhalten. Es existieren auch noch viele Lokalsorten, die häufig mit alten Nutzungsformen wie Dörren oder Einkochen verbunden sind. Gerade solche Aspekte finde ich besonders spannend und Fructus setzt sich auch dafür ein, dass solches Wissen nicht verloren geht.

Lässt sich denn abschätzen, wie viele Obstsorten heute in der Schweiz existieren?

Über 3‘000 Sorten der Hauptobstarten Apfel, Birne, Kirsche und Pflaume/Zwetschge werden alleine im Rahmen des Nationalen Aktionsplans zur Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft des Bundesamtes für Landwirtschaft erhalten. Fructus ist in diesem NAP-PGREL mit Sammlungs- und Beschreibungsprojekten stark involviert. Darüber hinaus dürfte es noch manche nicht erfassten Sorten geben und natürlich sind auch die modernen Sorten nicht zu vergessen. Man kann also vermutlich von gegen 3‘500 bis 4‘000 Sorten der Hauptobstarten ausgehen. Viele davon sind jedoch hochgradig gefährdet und können vorerst nur dank der Arbeit von Fructus und anderen Erhaltungsorganisationen sowie dank der Finanzhilfe des BLW erhalten werden.

Fructus wird nun bereits 30 Jahre alt. Was konnte in dieser Zeit erreicht werden?

Fructus ist heute die schweizweit grösste Erhaltungsorganisation, die sich ausschliesslich um Obst kümmert. Der Verein war und ist an den bedeutendsten Projekten der Inventarisierung und Beschreibung von Obstgenressourcen in der Schweiz beteiligt. Zudem betreiben wir mehrere Feldsammlungen mit Kernobst, Steinobst und Nüssen. Die Zusammenarbeit mit der Forschung, dem BLW, aber auch mit grünen Kreisen ist sehr gut. Besonders wichtig erscheint mir, dass Fructus auch zu einer beim modernen Erwerbsobstbau akzeptierten Organisation geworden ist. Ich sehe uns in gewissem Sinne als Brückenbauer zwischen den verschiedenen Interessengruppen, deren Bedürfnisse oftmals schwierig unter einen Hut zu bringen sind. Fructus ist heute aber auch international sehr gut vernetzt. Und natürlich haben die in unzähligen Stunden der ehrenamtlichen Arbeit auf die Beine gestellten Standaktionen, Obstsortenausstellungen und die Aktion „Obstsorte des Jahres“ ihren Teil dazu beigetragen, dass viele Leute auf die Fructus-Anliegen aufmerksam wurden.

Sie wurden zum neuen Präsidenten von Fructus gewählt. Werden Sie etwas an der Ausrichtung des Vereins ändern oder einen neuen Fokus setzen?

Die grundsätzlichen Ziele bleiben bestehen. Wir haben heute knapp 1‘100 Mitglieder und mit Migros/Terra Suisse und IP-Suisse zwei starke Partner. Die Zahl der Mitglieder ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. All dies zeigt meiner Meinung nach, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Damit diese erfreuliche Entwicklung weitergeht, müssen wir uns aber auch kontinuierlich weiterentwickeln, spannende Projekte ausarbeiten und den eingeschlagenen Weg der Professionalisierung weiterführen. Es ist mein Ziel, künftig vermehrt jüngere Menschen für unsere Anliegen zu begeistern und ich denke die Voraussetzungen dafür sind recht gut. Biodiversitätsthemen sind en vogue, gerade im urbanen Raum. Genau dort aber kennen viele den Namen Fructus noch nicht und um diese Leute zu erreichen, benötigt es zusätzliche Wege.
Ich möchte vermehrt kulinarische Themen aufgreifen – Stichwort Slow Food –und wir müssen unbedingt auch die Möglichkeiten von modernen Medien verstärkt nutzen, um auf uns aufmerksam zu machen. All dies natürlich ohne die klassischen Fructus-Mitglieder und deren Bedürfnisse nach Sortenbestimmungskursen, pomologischen Exkursionen etc. zu vergessen.

Was hat Sie dazu motiviert, Präsident von Fructus zu werden?

Von 2008 bis 2014 befasste ich mich im Rahmen des Fructus-Projektes „Beschreibung von Obstgenressourcen“ BEVOG bei Agroscope in Wädenswil mit alten Obstsorten. Die vielfältigen Eigenschaften, Nutzungsmöglichkeiten und nicht zuletzt die sozikulturellen Aspekte alter Obstsorten haben mich dabei fasziniert. Es ist mir ein Anliegen, meinen Teil dazu beizutragen, damit diese Vielfalt auch künftigen Generationen zur Verfügung steht. Die Arbeit lässt sich zudem ideal mit meinem eigenen Betrieb in Feldbach kombinieren.

Jonas Ingold, lid