Eine alte Kuh ist durchaus fähig, die Summe ihrer Lebenserfahrungen und Beobachtungen intellektuell zu verarbeiten.  Kühe kennen ihren Namen, wenn man sie regelmässig beim Namen ruft. Die dreizehnjährige Kuh „Njevesta“ hat realisiert, dass sie ihre langen Hörner als Werkzeug gebrauchen kann, um das grosse Schiebetor zu öffnen und sie kann mit dem Horn die „Bernerfalle“ der Türe öffnen, um in der Krippe im Alpstall die letzten Salzreste aufzulecken. Diese Kuh kümmerte sich auch emphatisch um das «plärende», fremde Kalb einer frisch gekalbten Erstlingskuh, das seine Mutter nicht mehr fand. Viele Kühe erinnern sich im Frühjahr auf der Alp noch genau an «ihren» letztjährigen Anbindeplatz und suchen ihn selbständig auf, um sich anbinden zu lassen. Den Weg auf die Alp würden die älteren Kühe sowieso selber finden und den „Zügeltag“ erahnen sie schon einen Tag vorher, offenbar dadurch, dass sie unsere Handlungen beobachten, Hektik wahrnehmen und mit ihrem «inneren» Kalender richtig interpretieren.

Vor einigen Jahren trieb ich die Kühe von der Weide zur Alphütte. Dabei hatten die Kühe einen steilen Hang zu durchqueren, mit schroffen  Felsrippen, die aus dem Weg herausstanden. Eine alte Kuh mit Klauenproblemen blieb stehen, die anderen Kühe begaben sich behutsam auf den Abstieg. Ich liess sie stehen, in der Gewissheit, dass sie dem Herdetrieb folgend, nachkommen werde.
Die Kuh blieb einige Minuten zurück und überlegte, dann stieg sie wieder 200 Meter den steilen Hang hoch, um weiter oben einen besseren Weg zu wählen.

Die Kuh hat zwei Wege, deren Eigenschaft sie aus der Vergangenheit kannte, verglichen. Sie hat den Aufwand (den steilen Hang hochsteigen) und den Nutzen (ohne grosse Schmerzen und sicher absteigen) gegeneinander abgewogen, und ist wieder mühsam den Hang hochgestiegen.
Das ist die intellektuelle Leistung einer Kuh, zu der manchmal nicht einmal Touristen fähig sind, die sich mit waghalsiger Routenwahl in den Bergen selber in Gefahr bringen.

Intelligenz“ ist mehr als nur das Erlernen und das Kopieren von beobachteten Handlungen. Intelligenz ist vorhanden, wenn eine Kuh für das Erreichen eines Zieles, das in der Zukunft liegt, unter verschiedenen Varianten, die sie aus der Vergangenheit kennt, abwägt und die für sie „beste Variante“ auswählt, obwohl sie für das Erreichen des Zieles einen anstrengenden Umweg machen muss. Sie kann also über die Lösung eines Problems „nachdenken“ und richtig „entscheiden“.

Christian Haueter