Clariant, der Schweizer Konzern für Spezialchemie, hat im vergangenen Oktober in Rumänien die erste kommerzielle Produktionsanlage für die Herstellung von Agrotreibstoff aus landwirtschaftlichen Reststoffen eröffnet. In der Anlage in Podari bei Craiova im Südwesten des osteuropäischen Landes sollen jährlich auf der Basis von Zellulose-Ethanol aus rund 250’000 Tonnen Getreidestroh und Bagasse (Nebenprodukt aus der Zuckerrohrverarbeitung) 50’000 Tonnen des klimafreundlichen Kraftstoffs produziert werden.

Die rumänische Gross-Anlage des in Pratteln (BL) ansässigen Konzerns verwendet für die Herstellung von Agrotreibstoff ausschliesslich lokal anfallende pflanzliche Abfallprodukte. Laut dem Unternehmen werden durch den nachwachsenden alternativen Kraftstoff bis zu 95 Prozent weniger CO2 ausgestossen. Zudem verringere sich die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Dies sei ein wichtiger Beitrag zum Netto-Null-Ziel. Angesichts des Klimawandels und schwindender Reserven fossiler Treibstoffe konzentriere sich heute die Suche immer stärker auf umweltverträgliche Alternativen. Allein im Automobilsektor würden rund 50% des weltweit produzierten Erdöls verbraucht.

Tank, Teller oder beides?

Die Produktion nachwachsender Rohstoffe kann allerdings in Konkurrenz mit der Nahrungs​mittelproduktion treten. Die Losung "Tank oder Teller" bringt das Dilemma auf den Punkt. Agrotreibstoffe der ersten Generation werden aus essbaren Pflanzen wie Raps, Mais oder Getreide und aus Futtermitteln hergestellt. Die zweite Generation jedoch verwendet Abfälle und bislang nicht genützte Reststoffe.

Die ethisch heikle Konkurrenz mit der Nahrungsmittelproduktion fällt dadurch weg. Die Herstellung von Agrotreibstoffen aus nicht essbarer Biomasse war bis vor kurzem jedoch teuer und energieintensiv, heisst es bei Clariant. Der Konzern investiert in die Produktionsanlage in Rumänien rund 100 Millionen Euro. An dem Projekt beteiligt sich die EU mit Fördermitteln in der Höhe von 40 Millionen Euro.

In der Umgebung des Werkes in Podari sollen neue grüne Arbeitsplätze geschaffen werden. Geplant sind im Werk selbst 100 Vollzeitstellen und in der Umgebung (Felder, Logistik) zusätzliche 300 Arbeitsplätze. Ferner soll die Wirtschaft vor Ort gefördert werden und sollen die Landwirte sowie lokale Unternehmen weitere Erwerbsmöglichkeiten erhalten. Es sollen auch Anreize für neue Geschäftsfelder sowie für das Wirtschaftswachstum im ländlichen Raum entstehen.

300 Landwirte liefern Stroh

Mit der neuen Anlage will Clariant nachweisen, dass die Herstellung von Zellulose-Ethanol im kommerziellen Maßstab auf der Grundlage der sunliquid®-Technologie technisch ausgereift, wirtschaftlich rentabel und wettbewerbsfähig ist. In der Region soll sich eine neue biobasierte Wertschöpfungskette als konkretes Beispiel für eine erfolgreiche Kreislaufwirtschaft etablieren. Gleichzeitig wird erwartet, dass die Gross-Anlage den Grundstein legt für die weitreichende Einführung der Produktion fortschrittlicher Agrokraftstoffe in Europa und für eine nachhaltigere Energieversorgung des europäischen Transportsektors.

Bis jetzt laufe alles nach Plan in Podari, sagt Caroline Schmid, Marketing Managerin für Biofuels und Derivatives Business bei Clariant. Das Werk befinde sich zurzeit in der Phase der Inbetriebnahme. «Der Prozess der Personalbesetzung wird nun finalisiert», führt Schmid weiter aus. «Ende letzten Jahres waren 75 Mitarbeitende in der Produktionsanlage angestellt. Mit mehr als 300 lokalen Landwirten hat Clariant Verträge zur Strohlieferung unterschrieben und ist weiterhin daran interessiert, das Netzwerk auszubauen, um eine Gewährleistung der Verfügbarkeit des nötigen Strohs herzustellen.»

EU fördert zweite Generation

Über die Herstellung des auf Reststoffen aus der Landwirtschaft basierten Biostreibstoffs sagt die Marketing Managerin: «Die sunliquid®-Technologie wurde über zehn Jahre vom Labor über den vorkommerziellen Massstab in Straubing (D) erfolgreich entwickelt und in der Praxis erprobt» Da sunliquid® Zellulose-Ethanol ausschliesslich aus Agrarreststoffen hergestellt werde, zähle es zu den fortschrittlichen Kraftstoffen der zweiten Generation, die von der EU in der neuen Erneuerbaren-Richtlinie RED II ausdrücklich gefördert und gefordert werden. Neben Getreidestroh können in dem biotechnologischen Verfahren auch Maisstroh, Rapsstroh, Reisstroh, Zuckerrohr-Bagasse und andere lignozellulosehaltige Reststoffe verwendet werden.

Für das klimafreundliche Bioethanol gibt es verschiedene Anwendungsbereiche. Schmid sagt dazu: «Neben der wichtigen Rolle, die Zellulose-Ethanol in der Defossilisierung des Transportsektors spielt, kann Bioethanol für die Ethylen- und Polyethylenproduktion verwendet werden und somit die Herstellung von Plastik nachhaltiger machen.» Weiterhin habe der mit der gleichen Plattform-Technologie gewonnene Zellulose-Zucker das Potenzial, als Baustein für die Produktion biobasierter Chemikalien zu dienen. Biobasierte Chemikalien können in verschiedenen Bereichen eine nachhaltige Alternative darstellen, wie zum Beispiel in Waschmitteln oder Kosmetikprodukten, aber auch in industriellen Anwendungsbereichen wie Schmierstoffe, Farben oder Beschichtungen.

Ist der in Podari produzierte Biotreibstoff für den Export vorgesehen? «Die gesamte Zellulose-Ethanol Produktion wurde über einen mehrjährigen Vertrag an einen grossen, globalen Öl- und Gaskonzern verkauft», sagt Schmid. «Die regionale Verwendung liegt in dessen Verantwortung.»

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Agrotreibstoffe – eine Chance für die Schweizer Mineralölbranche

«Die Einführung der Agrotreibstoffe im Schweizer Markt stellt eine der bedeutendsten Klimaschutzmassnahmen der vergangenen Jahre dar. Diese steht sinnbildlich für die wichtige Rolle der Mineralölindustrie bei der nachhaltigen Energieversorgung», schrieb im Mai letzten Jahres Roland Bilang, Geschäftsführer von Avenergy Suisse, in der Schweizerischen Gewerbezeitung. Avenergy vertritt die Interessen der Importeure flüssiger Brenn- und Treibstoffe. Die Mitglieder liefern den grössten Teil der Energie für den motorisierten Verkehr und für rund 40 Prozent der Gebäude in der Schweiz.

«Der Anteil der fossilen Energien (Erdölprodukte und Erdgas) am Endenergieverbrauch betrug im Jahr 2010 66,5 Prozent, zehn Jahre später noch immer 62 Prozent», meinte der Avenergy-Geschäftführer im vergangenen Mai. Sein damaliges Fazit: «Die Energiewende erfolgt in der Realität also wohl eher in kleineren Schritten.»

Und wie sieht das heute aus? Auf Anfrage sagte Bilang: «Die Klimadebatte hat sich seither nicht verschärft und die technischen Rahmenbedingungen sind unverändert. Der Markt hingegen hat sich verändert, aber eher in Richtung mehr Erdöl. Global steigt die Nachfrage nach Erdöl, unter anderem auch wegen der hohen Gaspreise.»

Aber die Richtung bei der Energie-Entwicklung stimmte für Bilang im Mai 2021 trotzdem. Ist das noch immer so? «Im Gebäudesektor wie im Mobilitätsbereich sinken die CO2-Emissionen. Der technologische Fortschritt gestattet dies trotz Bevölkerungswachstum und steter Zunahme der Mobilitätsbedürfnisse», sagt der Geschäftsführer von Avenergy.

Bleiben die Fördermassnahmen?

Welchen Stellenwert haben Agrotreibstoffe, die aus Abfällen und Reststoffen gewonnen werden, heute beim Schweizer Mineralölverband Avenergy Suisse? «Wir beschäftigen uns täglich mit dem Thema biogene Energieträger, praktisch alle Mitglieder importieren und vermarkten Agrotreibstoffe. Wir kämpfen für gute politische Rahmenbedingungen und kümmern uns um die erwähnten technischen Themen», sagt Bilang.

«Zurzeit werden die Biotreibstoffe durch die Steuerbefreiung und einen zusätzlichen Beitrag aus dem Kompensationsmechanismus der Stiftung KliK unterstützt», sagt der Geschäftsführer von Avenergy. «Beide Mechanismen stehen mit dem neuen CO2-Gesetz zur Disposition. Wenn die Agrotreibstoffe der Mineralölsteuer unterstellt werden, gibt es keine Fördermassnahmen mehr des Bundes für diesen wirkungsvollen Klimaschutz.» Und weiter meint Bilang in diesem Zusammenhang. Es sei fraglich, ob Agrotreibstoffe dann noch im Markt bestehen könnten. Zahlreiche Transporteure (auch in der Landwirtschaft), die heute bis zu 100% Agrosprit einsetzten würden wahrscheinlich keine versteuerten Agrotreibstoffe mehr einsetzen, wenn diese rund doppelt so teuer wären wie die fossilen. Die im neuen Gesetz vorgeschlagene «Gewährleistung» des Agrotreibstoffmarktes durch eine Beimischpflicht würde zu einer deutlichen Verteuerung des Treibstoffs an der Zapfsäule führen.  

EU- und schweizweite Förderung von biogenen Treibstoffen

Im EU-Raum werden Biotreibstoffe seit den 1990er Jahren kontinuierlich gefördert. Namentlich im Verkehrssektor sind die durch das Europäische Parlament und den EU-Rat erlassenen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Mitgliedstaaten verpflichtend. Bis zum Jahr 2030 sollen beispielsweise 3,5 Prozent des Energieverbrauchs durch Agrotreibstoffen der zweiten Generation – als jenen aus nicht essbaren Rohstoffen - gedeckt werden.

Die Richtlinien und Nachhaltigkeitskriterien für die Produktion von Agrokraftstoffen legen unter anderem die Berücksichtigung von Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Lebensmittelproduktion fest. D. h. es dürfen nur Abfälle und Reststoffe für die Herstellung verwendet werden, die nicht in Konkurrenz zur Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln stehen. Jeder EU-Mitgliedstaat muss sich seit 2020 verpflichten, dass dem Benzin und Diesel mindestens zehn Prozent Agrokraftstoffe beigemischt werden.

In der Schweiz gilt der Grundsatz, dass Pflanzen zuerst als Nahrungsmittel, dann als Futtermittel und erst zuletzt als Treibstoff verwendet werden sollen. Unter den derzeitigen Förderbedingungen ist es faktisch unmöglich, dass eine ackerbaubasierte Produktion von biogenen Treibstoffen – also aus essbaren Rohstoffen – hierzulande je eine Rolle spielen wird.

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BAFU: Gute Alternative, wenn keine Konkurrenz

«Biogene Treibstoffe aus Nahrungs- und Futtermitteln führen in vielen Fällen nur zu einer relativ geringen Reduktion der Treibhausgasemissionen», sagt Patrick Keller vom Bundesamt für Umwelt (BAFU). Sie würden zu einer Anreicherung von Nährstoffen in Böden und Gewässern führen und stünden in direkter Konkurrenz zur Produktion von Nahrungsmitteln. Landwirtschaftliche Reststoffe seien daher eine sehr gute Alternative, wenn sie nicht als Nahrungs- oder Futtermittel verwendet werden könnten.

Nach Ansicht des BAFU sind Treibstoffe aus Reststoffen zu bevorzugen, solange gewährleistet ist, dass es sich dabei um einen Rohstoff handelt, der als Nebenprodukt anfällt und nur von geringem Wert ist. Zudem darf der Entzug dieses Rohstoffs nicht zu einer Verringerung des Humusgehalts des Bodens führen. Im Weiteren soll der pflanzliche Anbau, bei dessen Verwertung die Gewinnung des Rohstoffes erfolgt, auch keine Umnutzung von Flächen mit hohem Kohlenstoffbestand oder mit grosser biologischer Vielfalt verursachen. Die Menge von Rohstoffen für die Treibstofferzeugung ist begrenzt, weil keine Konkurrenz zu einer anderen Nutzung entstehen soll.

Wie steht heute die Schweiz im Vergleich zur EU und ihren Rahmenbedingungen für die Förderung von klimafreundlichen Biokraftstoffen da?«Die Schweiz hat etwa zeitgleich mit der EU die Rahmenbedingungen für die Förderung von biogenen Treibstoffen festgelegt. Das ist 1996 mit dem Mineralölsteuergesetz und der Mineralölsteuerverordnung sowie 2016 mit der Verordnung des UVEK betreffend den Nachweis der Erfüllung der ökologischen Anforderungen an biogene Treibstoffe erfolgt», sagt Keller. Biogene Treibstoffe können von einer Mineralölsteuererleichterung profitieren, wenn sie die festgelegten ökologischen und sozialen Kriterien einhalten.

Und das sind die Kriterien für die Mineralölsteuererleichterung: Biogene Treibstoffe müssen vom Anbau der Rohstoffe bis zu ihrem Verbrauch erheblich weniger Treibhausgasemissionen erzeugen als fossiles Benzin (-40%). Sie dürfen die Umwelt vom Anbau bis zum Verbrauch gesamthaft nicht erheblich mehr als fossiles Benzin (+25% max.) belasten. Der Anbau der Rohstoffe muss auf Flächen erfolgen, die rechtmässig erworben wurden. Die biogenen Treibstoffe müssen unter sozial annehmbaren Bedingungen produziert werden.

«Ein explizites Verbot von Treibstoffen aus Nahrungs- und Futtermitteln gibt es in der Schweiz nicht», sagt Keller weiter. Aufgrund der geltenden ökologischen und sozialen Anforderungen erhalten heute ausschliesslich biogene Treibstoffe die Steuererleichterung, die die Nahrungsmittelproduktion nicht konkurrenzieren und fast ausschliesslich aus Abfällen, Reststoffen und Rückständen hergestellt sind. 2020 wurden in der Schweiz rund 68 Mio. Liter Bioethanol und 181 Mio. Liter Biodiesel und HVO (Hydrotreated Vegetable Oils) verbraucht. Dies entspricht rund 2.4% des Benzin- beziehungsweise 5.6% des Dieselölabsatzes. «Der überwiegende Teil der biogenen Treibstoffe wird importiert, da das inländische Produktionspotenzial nur beschränkt ist», so Keller.

Agrotreibstoffe der zweiten Generation – nicht ganz ohne Skepsis

In Umweltkreisen wird die Herstellung von Biotreibstoffen der zweiten Generation, die aus Abfall- und Reststoffen erfolgt, begrüsst, weil die Ökobilanz gegenüber fossilen Treibstoffen eindeutig besser ist. Und im Vergleich zu den Agrotreibstoffen der ersten Generation fällt einerseits die hohe Belastung aus der Rohstoff-Bereitstellung (Nahrungs- und Futtermittel) weg und andererseits können die Umweltemissionen aus der Abfallbehandlung reduziert werden. Jedoch werden Treibstoffe aus Biomasse der zweiten Generation auch teilweise aus Holzmasse hergestellt, welche eigens zu diesem Zweck produziert wird. Zudem kommen auch Holzhackschnitzel aus Schnellwuchsplantagen zur Verwendung. Das stösst in Umwelkreisen auf Missfallen.

Schweizer Menge reicht nicht

Umweltwissenschaftler Retto Knutti von der ETH äussert sich dezidiert: Die Herstellung von Agrotreibstoffen ausschliesslich aus Reststoffen könne weitgehend CO2-neutral erfolgen. Anders aber sei es beim Transport der Rohstoffe in die Verarbeitung. Das gehe kaum CO2-neutral.

Wie ist die Schweiz hinsichtlich der Herstellung von Biotreibstoffen der zweiten Generation aufgestellt? Dazu meint der Umwelt-Professor: «In der Schweizer Landwirtschaft fallen nicht besonders viele Reststoffe an, weil die gesamte Anbaufläche ja nicht sehr gross ist. Wahrscheinlich könnte die Gesamtmenge der in der Schweiz aus landwirtschaftlichen Reststoffen gewonnenen klimafreundlichen Agrokraftstoffe nicht einmal zehn Prozent der fossilen Kraftstoffe ersetzen.» Aus ökologischer Sicht falle in diesen Zusammenhang Biogas, das in der Landwirtschaft aus Mist und Gülle produziert werden könne, stärker ins Gewicht, meint Knutti. «Bei den Autos, denke ich, ist der Elektroantrieb, also eine Batterie, günstiger und effizienter als Agrotreibstoff. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass mit Technik nicht alle ökologischen Probleme lösbar sind. Dafür braucht es auch ein entsprechendes Umdenken in der Lebenshaltung.»