«Weisch», sagte einst eine Studienkollegin zu mir, «du lebst schon in einer ganz anderen Welt.» Damals wohnte ich in einer Studenten-WG in der Zürcher Agglomeration, die besagte Kollegin – nennen wir sie Alice – ein paar Kilometer weiter im Stadtzentrum. Unsere zwei Welten lagen also gar nicht so weit auseinander – zumindest geografisch gesehen.
Während ich Freitag für Freitag meine Sachen packte und zurück ins Entlebuch reiste, war Alice bekannt für ihre legendären «Wochenend-Club-Tours» durch Zürich. «Beize-Rundi» würde man bei uns sagen. Aber in Zürich sind es halt «Clubs» und keine «Beizen» und auch sonst ist dort eigentlich alles anders als bei uns. Dachte ich jedenfalls.
Bis ich mich nach einer ausgiebigen Diskussion, was jetzt «richtiger Ausgang» ist, von Alice überreden liess, mit ihr das Zürcher Nachtleben zu erobern. So fuhr ich also eines Freitagabends gegen zehn Uhr zusammen mit Alice in die Stadt. Bis wir im Club ankommen, dachte ich mir, wird die Party wohl schon halb gelaufen sein. Zu Hause muss man sich um zehn Uhr nämlich eher darum kümmern, das letzte Postauto nicht zu verpassen. In jenem Club, den Alice für meine «Züri»-Premiere ausgewählt hatte, war um diese Zeit aber erst Türöffnung.
Ein paar Wochen später besuchte mich Alice in meinem «alten» Zuhause im Entlebuch. Am meisten angetan hatte es ihr aber nicht wie erwartet das Bergpanorama, sondern die Hühner; allen voran unser prächtiger Gockel. Dass dieser Hanspeter heisst, irritierte sie dabei mehr als sein schreckliches Gekrähe, das bis heute eher nach Stimmbruch als nach «Kikeriki» tönt. Zusammen mit meinem Freund stand Alice vor dem Hühnerhaus und diskutierte mit ihm über die noch nicht vorhandenen Nachkommen aus dem Hause Hanspeter.
Mein Vater nervte sich schon länger am morgendlichen Gockel-Gekrähe, so dass er jede Chance nutzte, um unseren Hanspeter auszuquartieren. Mit breitem Grinsen ging er also auf die beiden zu und fragte, ob nicht einer von ihnen einen «Güggel» brauchen könnte. Mein Freund zögerte nur eine Sekunde zu lange, schon stand mein Vater mit einer Bananenkiste und einem noch breiteren Grinsen vor ihm. «Darfst ihn haben», meinte er und streckte ihm die Kartonschachtel entgegen.
Als die beiden Männer den Hanspeter dann tatsächlich in die mit Stroh und Guckloch ausgestattete Schachtel verpackten, stand Alice ungläubig daneben. Ihr Gesicht liess verraten, dass in Zürich ein Güggel-Handel nicht zum gewohnten Sonntagsprogramm gehört. Hanspeter hingegen schien sich auf sein neues Zuhause zu freuen. Dort bekam er übrigens etwas später auch endlich Nachwuchs – drei kleine Hanspeters, die allesamt nicht besser krähen konnten als ihr Vater.
Ob es den Hanspeter noch gibt, fragt mich Alice ab und zu und freut sich dann umso mehr, wenn ich ihr ein Foto vom schönen Hahn zeige. Den Satz «Du lebst schon in einer anderen Welt» hat sie seit ihrem Besuch aber eher noch häufiger verwendet. Ob der sonntägliche Güggel-Handel oder einer ihrer Streifzüge durch das Zürcher Nachtleben daran schuld ist, sei vorerst dahingestellt.