Und plötzlich ging alles schnell. Es ist Juli 1993, und nur eine Woche nachdem die Familie Wittwer ihre Bewerbungsunterlagen bei der kanadischen Migrationsbehörde eingereicht hat, erhält sie einen Anruf. Am Apparat ist die kanadische Botschaft in Bern, die wegen Budgetkürzungen bald geschlossen werden soll. Da ihnen das Projekt der Familie Wittwer sehr gut gefalle, könnten sie den Antrag bei sofortiger Bezahlung gleich bearbeiten.

Von ersten Gesprächen zur Aufenthaltsbewilligung

800'000 AuslandsschweizerSchweizer Landwirte im Ausland: Eine Export-GeschichteSamstag, 28. Oktober 2023 So sind die Wittwers rasch unterwegs zum Gespräch mit dem kanadischen Botschafter und Anfang September haben sie die Aufenthaltsbewilligung. Von diesem Tempo des Einwanderungsverfahrens können Einwanderungswillige in Kanada heute nur träumen.

«Wir haben den Entscheid auszuwandern als Familie getroffen. Berge mussten da sein, sonst wäre es für mich schwierig gewesen. Es war nicht unbedingt leicht. Es war aber auch nicht schwierig. Wir haben einen Entscheid gefällt. Für uns ein logischer Schritt», sagt Eugen Wittwer.

Seine Auswanderer-Geschichte ist keine Ein-Mann-Geschichte, sondern jene eines ganzen Familienclans. Und es ist eine Erfolgsgeschichte, geprägt von Veränderungen, Herausforderungen und stetigem Lernen. Mit dabei: die Eltern Alfred und Ursula Wittwer, die Geschwister Manfred, Marlies und Eugen mit Ehefrau Irene und ihren zwei Kindern.

«Als wir gekommen sind, konnten wir kein Wort Englisch. Kein einziges Wort. Wir haben es aber schnell gelernt. Die Maschinen waren anders, die Tiere, der Umgang mit den Wildtieren. Wir mussten vieles neu lernen», erklärt Eugen. 

Geprägt von Landwirtschaft und Unternehmertum

Angefangen hat alles auf der Alp Dürrenberg im Kandertal. Dort, wo Eugen Wittwer von klein auf seine Sommer verbringt. Sein Vater betreibt einen Alpbetrieb mit Kühen, Rindern, Ziegen und Schafen. Am Tisch sitzen immer viele Leute, die Bauern der Genossenschaft und Touristen. Als Eugen Wittwer 14 Jahre alt ist, kann sein Vater ein kleines Baugeschäft übernehmen.

Die enge Bindung von Eugen Wittwer zur Landwirtschaft bleibt auch bestehen, als er die Lehre zum Maschinenmechaniker macht. Nach seiner Ausbildung kehrt er sofort zum Familienbetrieb zurück, um dort zu arbeiten. Einem Aufruf von Pro Specia Rara folgend beginnen die Wittwers als erste Bauern in der Schweiz mit der Zucht von Hinterwäldler Kühen. Da sie nur wenig Land besitzen, müssen sie zusätzliches Land pachten.

Das Kanada-Fieber schlug zu

Die Wittwer-Familie hat Schwierigkeiten, passendes Land in der Schweiz zu finden. Deshalb reisen sie in andere Länder, um sich dort Grundstücke anzuschauen. Sie besichtigen unter anderem einige Betriebe in Frankreich, aber die Kultur gefällt ihnen nicht.

«Wir haben auch in der Schweiz geschaut. Wir waren aber immer unsicher, ob das dann finanziell auch reichen würde», erklärt Eugen Wittwer.

1985 heiratet Eugen Wittwer Irene. Die Hochzeitsreise führt sie nach Kanada, wo sie vom Kanada-Fieber gepackt werden. Von da an besuchen auch die restlichen Familienmitglieder das riesige Land in Nordamerika.

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Die Farm im Bulkley Valley

Familie Wittwer lebt in Telkwa. Die Ortschaft befindet sich im Bulkley Valley im Nordwesten der kanadischen Provinz British Columbia. Es wird von der Hudson Bay Mountain Range und den Babine Mountains begrenzt. Lange Zeit war die Viehzucht ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, heute sind Forstwirtschaft, Bergbau und Tourismus die wichtigsten Wirtschaftszweige.

Mehr Informationen zur W Diamond Ranch und das Bulkley Valley findest du hier: https://www.wdiamondranch.ca/

Aufbruch in den wilden Westen

Der Wunsch nach mehr Land und die Möglichkeit, eine Farm nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen, beschäftigt die Wittwers unaufhörlich. Daher trifft die gesamte Familie Wittwer im Jahr 1992 gemeinsam die Entscheidung: Wir wandern nach Kanada, ins Bulkley Valley, aus.

«Als wir das Grundstück gekauft haben, haben wir das Land zu Weideland gemacht. Das wäre in der Schweiz nicht möglich gewesen. Wenn ich ein Farmgebäude baue, brauche ich auch heute noch keine Bewilligung. Wenn ich ein Haus baue, dann brauche ich zwar heute eine Bewilligung, aber damals war das nicht der Fall. Wir konnten einfach bauen.»

Nachdem die Familienmitglieder die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, reisen sie, mit einigen Monaten Abstand, in Kanada ein. Sie kaufen eine Farm mit einer Grösse von 270 Hektar. Zu dieser gehört ein Pachtvertrag für 2000 Hektar Weideland. Um den Pachtvertrag zu behalten, müssen sie sofort Tiere kaufen und mit der Landwirtschaft beginnen.

«Als wir hier ankamen, konnten wir die anderen Bauern fragen. Sie haben uns erzählt, wie sie es machen. Sie haben nie über uns gesprochen, auch wenn wir vieles anders machten als sie. Wir haben unseren Kühen auch kleine Glocken angezogen.»

Es läuft nicht von Anfang an rund

Doch die Farm läuft nicht von Anfang an und es erfordert einige Investitionen. Manfred und Eugen arbeiten deshalb in der Forstwirtschaft. 2003 haben sie 170 Mutterkühe und verkaufen die Kälber. Mit diesen Einnahmen können sie die Kosten der Farm decken. Doch dann kommt die BSE-Krise. Der Markt bricht zusammen. Die Kälber werfen nur noch die Hälfte an Gewinn ab.

Die Wittwers müssen weiter auswärts arbeiten, um die Farm zu finanzieren. Diese Lage ist für sie unbefriedigend und sie suchen nach Lösungen: «Wir sagten uns: Das macht doch keinen Sinn. Wir sind ein Bauernbetrieb, wir sollten doch wie ein Geschäft funktionieren. Entweder wir verlassen uns auf Subventionen. Oder wir bleiben unabhängig und schauen, dass wir den Betrieb selbst erhalten können. So haben wir dann die Stiere behalten, und selbst gemetzget.»

So beginnt die Wittwer Familie mit der Direktvermarktung. Doch das Schlachten im Winter draussen bei eisiger Kälte (es kann bis zu minus 40 °Celsius werden) macht keinen Spass. Gemeinsam mit anderen Bauern gründet Eugen Wittwer deshalb eine Genossenschaft und baut ein Schlachthaus für die gemeinsame Nutzung. Die Familie beginnt nach und nach damit, ihr eigenes Fleisch nicht nur zu schlachten, sondern es auch weiterzuverarbeiten und zu verkaufen.

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Gemeinschaftlich mit regenerativer Landwirtschaft zum Erfolg

Heute weiden auf der W Diamond Ranch 80 Mutterkühe, 150 Rinder und drei Stiere. Nach wie vor bewirtschaftet die Familie Wittwer 270 Hektaren eigenes Land, 60 Hektaren privates Pachtland und rund 2000 Hektaren staatliches Pachtland, sogenanntes Crown Land.

Die Wittwers schlachten jährlich im Auftrag von 350 bis 400 Betrieben. Diese verarbeiten das Fleisch entweder selbst oder lassen es von den Wittwers verarbeiten. So werden momentan jeden Tag rund 20 Tiere geschlachtet. Diese werden auf den lokalen Märkten – wobei lokal in kanadischen Verhältnissen gedacht einen Radius von etwa 300 km umfasst – verkauft. Die Direktvermarktung blüht und alle Familienmitglieder sind mehr als ausgelastet.  

Das stagnierende Schlachtgewicht seiner Tiere hat Eugen Wittwer dazu gebracht, sich verstärkt mit alternativen Möglichkeiten für das Futter zu beschäftigen. Nach erfolgreicher Umstellung des Weidemanagements produziert die W Diamond Ranch seit 2019 nach den Prinzipien der regenerativen Landwirtschaft. So ist der Boden das wertvollste Kapital und die adaptive Beweidung und andere regenerative Praktiken führten zu einer nachhaltigen Gewichtszunahme bei den Tieren wie auch zu einer gesünderen Landwirtschaft, wie Eugen Wittwer sagt. 

Fressverhalten änderte sich

«Nach dem BSE haben wir mit dem künstlichen Dünger aufgehört. Wir hatten kein Geld mehr. Wir mussten andere Lösungen finden. Seit wir nach den Prinzipien der regenerativen Landwirtschaft arbeiten, nutzen wir z. B. keine chemischen Mittel für die Parasitenprävention bei den Tieren mehr», erklärt der Farmer. «Abreste davon gelangen mit dem Urin in den Boden. Das ist für die Bodenlebewesen eine Belastung und stört den Bodenhaushalt und somit die Bodengesundheit. Unsere Kühe können wählen, was sie fressen, Leguminosen, Kräuter, Büsche. Seit wir nicht mehr behandeln, sehen wir, wie sich das Fressverhalten unserer Tiere verändert hat.

Ein grosser Familienverband

Inzwischen arbeiten alle Familienmitglieder auf der Farm gegen Lohn, auch Eugen Wittwer. Nach etlichen Jahren externer Arbeit ist er nun stolzer Farm Manager und leitet die Farm. Manfred kümmert sich um den Schlachtereibetrieb, während Marlies und Irene das Fleisch verpacken und verkaufen. Der Vater, mittlerweile 81 Jahre alt, hilft auch noch tatkräftig mit.

«Wir haben stets als Familie zusammengearbeitet und waren immer offen, anderen zu helfen. Das war in der Schweiz bereits so. Meine Mutter hatte manchmal 25 Leute am Tisch. Es hat eigentlich nicht viel geändert. Heute wohnt der Metzger, der bei uns arbeitet, auch hier», sagt Eugen. 

Die Familie Wittwer ist also auch nach vielen Jahrzehnten als geeinter Familienverband unterwegs, trifft gemeinsam alle wichtigen Entscheide und lebt in Gemeinschaft. Sie haben ihren Traum von mehr Land verwirklicht und fühlen sich mit Herz und Seele in Kanada zu Hause.