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HB-3224 steht auf dem schlanken weissen Rumpf. Barbara Muntwyler stemmt sich gegen den Flügel und schiebt das Segelflugzeug langsam aus dem Hangar, über den geteerten Vorplatz ins Gras. Das Flugzeug ist elegant und stromlinienförmig. In wenigen Stunden werden wir mit diesem fragil wirkenden Ding abheben.
Barbara Muntwyler war schon als Kind von Flugzeugen und Flugplätzen fasziniert. Ihr Vater ist Segelflugpilot, teilte das Hobby aber nie. «Beim Fliegen erholte er sich von Arbeit und Familie», sagt die 33-jährige Sekundarlehrerin. Bei Ferien in der Nähe eines Segelflugplatzes ging die Mutter mit zwei Töchtern auf eine Wanderung, während Barbara, die dritte, auf dem Flugplatz herumhing und die Flugzeuge bewunderte. Ein Freund des Vaters nahm Barbara auf ihren ersten Segelflug mit. «Ich war sofort infiziert, aber noch zu jung für die Ausbildung.»
Mit 16 Jahren die Ausbildung begonnen
Mit beiden Händen fährt Barbara Muntwyler der Oberfläche des Flugzeuges entlang, schaut konzentriert schräg auf das leicht spiegelnde Weiss, um allfällige Unregelmässigkeiten oder Schäden zu entdecken, die die Flugleistung beeinträchtigen können. Sie rüttelt an den Rudern und dem Höhensteuer. «Unsere Lebensversicherung.»
Kaum 16-jährig begann Barbara Muntwyler mit dem Segelfliegen. Doch mit der Matura und dem Studium an der pädagogischen Hochschule wurden Geld und Zeit knapp, das Segelfliegen musste warten. «Aber das Reissen nahm mit den Jahren zu, bis ich es nach fast zehn Jahren nicht mehr ignorieren konnte.» Sie nahm den zweiten Teil der Ausbildung in Angriff und erflog ihr Brevet im August 2013.
Eine Lösung für das Pinkeln
An einem Seil wird das Flugzeug von einem Auto ans Ende der Piste gebracht. Barbara Muntwyler geht mit, hält das Flugzeug an einer Flügelspitze im Gleichgewicht. «Für mich ist das ein Ritual, das bedeutet: Das Flugzeug ist kontrolliert und eingerichtet. Bald geht es los.» Zurück beim Hangar kramt die Pilotin in ihrer Tasche: «Windeln anziehen.»
Wer mehrere Stunden in der Luft bleiben will, muss für das Pinkeln eine Lösung finden, die maximal eine Hand erfordert. Zwar gibt es Pilotinnen, die auf Dauerkatheter oder Abpump-Vorrichtungen setzen, aber die meisten verwenden Windeln, sie sind günstig und simpel. «Es dauert eine bis zwei Saisons, bis man in der Luft auch wirklich pinkeln kann.»
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Karte, Checkliste, Proviant: bisweilen bleibt die Pilotin stundenlang in der Luft.
Wir sind angeschnallt, die Plexiglashaube ist geschlossen, ein Stahlseil verbindet das Segelflugzeug mit dem Motorflieger. «Controls are free and easy», murmelt Barbara Muntwyler auf dem Vordersitz. «Höhe gut, speed zero, vario zero – passt», verstehe ich.
Vom Streckenflug zum Kunstflug
Direkt nach dem Brevet hat Barbara Muntwyler auf den Streckenflug gesetzt. Hier geht es darum, möglichst schnell eine gewisse Strecke abzufliegen. Zwei Jahre später folgt die Kunstflugausbildung. Dabei absolviert die Pilotin eine Reihe von Figuren in einem vorgegebenen Programm oder in einer selbst zusammengestellten Kür. «Ich hatte das Gefühl, das Fliegen neu lernen zu müssen.» Gefallen hat ihr das Adrenalin: «Das Gefühl ist nochmal viel toller als beim Fliegen ohnehin.»
Der Kunstflug reizt Barbara Muntwyler immer noch. Das Training ist jedoch teuer und zeitaufwendig. «Ich kann mir gut vorstellen, in ein paar Jahren eine Zeitlang voll auf Kunstflug zu setzen und auf einen Wettkampf hinzutrainieren.» Im Moment hat sie ein anderes Ziel: schneller werden. Dafür hat sie sich den deutschen Segelfliegerinnen des Angelika Machinek Fördervereins angeschlossen. Dort besucht sie in der Regel zwei Trainingslager pro Jahr.
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Kurz vor dem Abheben auf dem Flugplatz Courtelary: Ein Motorflieger zieht das Segelflugzeug an einem Stahlseil rund 1000 Meter in die Höhe. Selber kann der Flieger ohne Motor nur mittels aufsteigender warmer Luft (Thermik) Höhe gewinnen.
Der Motorflieger hebt ab und wir uns mit ihm. Häuser und Autos werden kleiner, links und rechts rücken die Juraflanken ins Blickfeld. «Steigen gut, speed gut», murmelt Barbara Muntwyler immer wieder und dann: «850 Meter, safety altitude is reached.» Sollte das Seil jetzt reissen, würden wir es zurück zum Flugplatz schaffen. Sonst müssten wir auf einem Feld aussenlanden.
Rund zwei Prozent der Brevets in der Schweiz werden von Frauen gehalten. In einem dermassen männerdominierten Umfeld müssen Frauen lernen, zurechtzukommen. Umso wichtiger ist der Austausch unter den «Hexen».
Segelfliegerinnen werden «Hexen» genannt
Dass Segelfliegerinnen so bezeichnet werden, habe seinen Ursprung beim Damensegelflugwettbewerb im Jahr 1949, steht auf der Website des Schweizer Frauensegelflugverbands. Die Polinnen leisteten damals viel Pionierarbeit und hatten eine Hexe im Logo («Babajaga»). Das Symbol wurde übernommen; heute bezeichnen sich auch international viele Segelflugpilotinnen als «Hexen».
Seitenwinde und Böen schütteln uns hin und her, zum kleinen Seitenfenster zieht Luft herein. «Magst du ausklinken?» fragt Barbara Muntwyler. «Der gelbe Hebel?» versichere ich mich und ziehe fest, aus Sicherheitsgründen zweimal, das Seil wird ausgeklinkt und vom Motorflieger eingerollt, der unter uns nach rechts wegdreht. Wir sind allein.
Nicht auf Frauen eingerichtet
Die Hindernisse für Frauen beim Segelfliegen sind vor allem technischer Natur. Frauen sind oft kleiner und leichter als der Standard-Segelflugpilot und müssen Blei laden, um das Mindestgewicht zu erfüllen. Allerdings kann das Blei je nach Bautyp im Flugzeug nirgends befestigt werden. Barbara Muntwyler ist ausserdem etwas zu klein und muss jeweils den Sitz polstern, damit sie richtig aus dem Fenster sieht. «Darüber hinaus gibt es natürlich ältere Herren, die dir helfen wollen, den Flügel zu montieren, weil das schwere Arbeit ist. Da muss man bestimmt bleiben.»
Wichtig ist daher, ein gutes Plätzchen zu finden. Barbara Muntwyler ist bei der Segelfluggruppe Biel untergekommen. Mit einer Kollegin und zwei Kollegen hält sie zwei Streckenflugzeuge; dazu einen Kunstflugflieger mit Kollegen von einem anderen Flugplatz.
Das Flugzeug wird jäh hochgehoben, Thermik hat uns erfasst. Der Joystick bewegt sich, als Barbara Muntwyler in den «Thermikschlauch» einfädelt, einem Strom aus warmer Luft. Aber wir gewinnen nur ruckelnd an Höhe, zu viele Böen, Luftlöcher und Seitenwinde. Wie angeraten blicke ich konzentriert an ihrem Kopf vorbei auf den Horizont und rede meinem Gleichgewichtssinn zu, dass es in Ordnung ist, dass wir so schräg im Raum stehen. In meinem Mund steigt ein saurer Geruch auf und ich greife nach dem vorbereiteten Plastiksack.
Ein Gespür für Flugzeuge
«Auf dem Flugplatz vergesse ich alles», erzählt Barbara Muntwyler. «Nach einem Tag zwischen den Flugzeugen, mit den Leuten hier und in der Luft bin ich komplett erholt.» Wenn dann noch ein optimaler Flugtag hinzukommt, ist das Glück für sie perfekt.
Manchmal stimme einfach alles: Die mentale Einstellung und das Flugzeug passen zusammen, sie lese das Wetter richtig, kann die Thermik effizient nutzen und schnell vorwärts fliegen. Toll sei natürlich auch, mit einem Milan zu kreisen oder stark abzusinken und doch noch eine Thermik zu finden, die einen wieder hochbringe. «Oder natürlich, einem Kollegen davonzufliegen, obwohl er das bessere Flugzeug hat.» Nicht zuletzt sei es die Landschaft, die von oben betrachtet ein unglaubliches Gefühl vermittle.
Es ruckelt, der Magen hopst
Wir haben eine gute Thermik gefunden und gewinnen ruhig an Höhe. Unter uns gruppieren sich Dörfer um die Hauptstrasse. Auf der Krete steht ein einzelner Bauernhof, die weiss-braunen Flecken sind wohl Kühe. Auf der kahlen Kuppe des Chasserals ragt der Sender in die Luft. Im Westen sind die Wolken bedrohlich dunkel, darunter Regen wie ein feiner Schleier. Da ruckt es wieder, mein Magen hopst. «Wie geht es dir?» fragt Barbara Muntwyler. Ich zippe meinen Beutel zu und wische mir den Mund ab. «Alles okay.»
Segelfliegen vermittle ein gutes Gespür für Flugzeuge, weil man mit allen Sinnen fliege und nicht nur mit den Instrumenten, erklärt die Pilotin. Zum Beispiel beginnt das Flugzeug zu zittern und wird instabil, wenn man zu langsam fliegt. Beim Segelfliegen lernt man, auf diese Anzeichen zu achten. Ausserdem muss man die geografischen und witterungsbedingten Gegebenheiten um sich herum wahrnehmen und lesen.
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Am meisten fasziniert Barbara Muntwyler beim Seegelfliegen die Verbindung von Mensch, Technik und Natur. Da die Segelflugzeuge nicht auf die meist kleineren und leichteren Körper von Frauen ausgerichtet sind, muss die Pilotin den Sitz jeweils auspolstern.
«Willst du mal fliegen?» fragt Barbara Muntwyler. Ehrfürchtig schliesse ich meine Hand um den Joystick und visiere den nächsten Jurahügel an. Das Flugzeug reagiert direkt auf meine vorsichtigen Korrekturen. Fasziniert vergesse ich, dass mir übel ist.
Die Verbindung von Mensch, Technik und Natur begeistert Barbara Muntwyler beim Fliegen am meisten. «Ich habe mir sogar überlegt, Aviatik zu studieren. Aber Geschichte interessierte mich auch.» Damit sie sich nicht für ein Thema entscheiden muss, ist sie Lehrerin geworden: «In dem Beruf kann ich mich allem befassen.»
«Piste 24» grollt es aus dem Funk. Wir verlieren rasant an Höhe, die Nase zeigt einen Moment zu Boden, die Turbulenzen nehmen ab, bald sind die einzelnen Grashalme zu unterscheiden, «centerline okay, speed okay, aiming point okay», murmelt Barbara Muntwyler immer wieder, wir setzen auf, die Pilotin bremst, wir holpern auf dem Gras, rechts tauchen Hangar und Clubhaus auf, wir kommen zum Stehen.
«In ein Thema richtig eintauchen, das gefällt mir.»
Barbara Muntwyler
Neben dem obligatorischen Kurs in Funkkommunikation hat Barbara Muntwyler auch Kurse zur Instandhaltung der Flugzeuge besucht. «In ein Thema richtig eintauchen, das gefällt mir.» Sie überlegt sich schon, welcher Aspekt des Fliegens als nächstes kommen könnte. Vielleicht Fluglehrerin werden? Oder doch lieber Fallschirme packen? Aber zuerst steht jetzt ein anderes Projekt im Vordergrund: Im Herbst 2021 will sie auf den Kilimandscharo.