Das Neujahrsfest sei ein wichtiger Feiertag für die Bevölkerung, wurde uns schon früh einmal erzählt, und wir haben uns gefragt, warum das wohl so ist. Wir erfuhren, dass in der Sowjetzeit versucht wurde, Weihnachten abzuschaffen, weil kein religiöser Feiertag erwünscht war. Wahrscheinlich war die Opposition in der Bevölkerung zu gross, deshalb wurde Neujahr zum Ersatzfest für Weihnachten.
Aus diesem Grund kommt an Neujahr der Samichlaus, Tannenbäume werden geschmückt und Geschenke verteilt. Bis heute ist es ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Feiertag für die meisten Leute in Kirgisistan. Es gibt Gruppierungen, die auch heutzutage dieses Fest abschaffen und lieber nur islamische Feiertage feiern möchten. Doch die Popularität von «tschange tschill» ist sehr gross, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier so bald verschwindet.
Ein Festessen in der Firma gehört dazu
So war ich gespannt, wie man diesen Tag hier feiert, und ob das mit unserer Weihnachtszeit zu vergleichen ist. Ein paar Tage vor dem 31. Dezember hat die Firma schon für alle Kinder der Mitarbeiter einen Plastiksack mit vielen Süssigkeiten, Früchten und Nüssen verschenkt. Das macht man hier so.
Am 31. Dezember fand das traditionelle Mitarbeiterfestessen statt. Dies begann um elf Uhr, damit die Mitarbeiter am Nachmittag und am 1. Januar frei machen und mit ihren Familien und Verwandten feiern konnten. Dabei wurde das Fest von einem der älteren Angestellten vorbereitet. In dieser Kultur spielt das Alter eine grosse Rolle, und solche ehrenvollen Aufgaben sind den Älteren vorbehalten. Für jeden Mitarbeiter wurde auf dem Tisch ein Platz vorbereitet. Dort befand sich ein leerer Plastiksack, auf dem lauter «feine Sachen» angehäuft waren.
Da fand man zum Beispiel Mandeln, Nüsse, Pistazien, Granatäpfel, Datteln, Mandarinen und viele Süssigkeiten. Eigentlich alles, was auf einen reich gedeckten Tisch gehört, wenn Kirgisen Gäste bewirten. In der Mitte des Tisches standen Süssgetränke, Delikatessen wie Lunge und Salate bereit. Dabei war jeder Platz so voll, dass gar nicht genug Platz für das eigentliche Essen da war. So mussten wir zuerst all die Esswaren auf dem Tisch in den Plastiksack packen.
Hier ist es bei Festen üblich, dass immer übermässig viele Esswaren vorhanden sind und die Gäste dann einen Plastiksack voll mit nach Hause nehmen dürfen. Der Inhalt der Plastiksäcke wird zu Hause mit den Familienangehörigen und Nachbarn geteilt.
Das Schafeschlachten in der kirgisischen Kultur
Der erste Gang beim Festessen bestand aus einer heissen Suppe. Danach gab es für jeden Mitarbeiter drei besondere Stücke Schaffleisch, nämlich Leber, eine Rippe mit Fleisch und Fett vom Hintern des Schafs. Hier gibt es nämlich fast ausschliesslich Fettschwanzschafe. Diese drei Stücke haben einen besonderen Namen und gelten als Segen. Danach wurde auch der Rest des Schafs noch verteilt. Für zirka 40 Mitarbeiter wurden zwei Schafe geschlachtet.
Das Schafeschlachten ist ein sehr wichtiger Teil der kirgisischen Gastfreundschaftskultur. Die Kirgisen erzählen einem gerne, dass bei einem Fest nur ein paar wenige Männer ein ganzes Schaf essen können. Kulturell gibt es die Möglichkeit, über
die Auswahl des Fleischstücks dem Gast die Wertschätzung zu kommunizieren, die man für ihn hat. Da kenne ich aber noch nicht alle Details, und bei unserer Feier war das nicht vorhanden. Als abschliessende Speise gab es ein populäres Eintopfgericht.
Unumgängliche Ansprachen der Mitarbeiter
Nach dem Essen wurden alle verantwortlichen Personen aufgefordert, eine Ansprache zu halten. Meistens waren es einfach Glückwünsche für die Mitarbeiter und für die Firma im neuen Jahr. Ebenfalls alle Ausländer wurden gebeten, eine Ansprache zu halten. Ich wusste nichts von meinem Glück im Voraus und habe die «Vortragssprache» noch gar nicht wirklich gelernt, weshalb ich eher etwas in Verlegenheit geriet. Doch das muss man mit Humor nehmen, da so viele etwas sagten, ist es wohl nicht weiter aufgefallen. Jedenfalls weiss ich, dass ich mir da bis zum nächsten Neujahr noch etwas aneignen muss.
Tobias Gerber