AboAlpsaisonPro Natura will Sömmerung von Schafen neu denken: «Die Aufgabe einzelner Alpbetriebe darf kein Tabu sein»Dienstag, 27. Juni 2023 Die Debatte über den Wolf tritt in eine neue Phase ein. «Die Aufgabe einzelner Alpbetriebe darf kein Tabu sein», schreibt Pro Natura in einer Mitteilung vom 27. Juni. Bereits im Frühling hat die Gruppe Wolf Schweiz vorgespurt: «Die Zeit der unschützbaren Alpen ist vorbei», liess Geschäftsführer David Gerke am 27. April verlauten. Alpen, die trotz Bundesgeldern für den Herdenschutz nicht wirtschaftlich geschützt werden könnten, seien «nicht zukunftsfähig», so Gerkes Argumentation.«Werden sie aufgegeben, muss dies als Teil des Strukturwandels hingenommen werden.»

Pro Natura argumentiert dabei mit der Biodiversität. «Oberhalb der Baumgrenze, wo Verbuschung von Natur aus nicht stattfindet, hat die Beweidung keine biodiversitätsförderlichen Effekte.» Dabei geht es nicht um vereinzelte, kleine Alpen: «Das betrifft rund 40 Prozent der gesamten Sömmerungsflächen der Schweiz.»

Schafe schaffen Grasteppich

Sara Wehrli, bei Pro Natura Verantwortliche grosse Beutegreifer und Jagdpolitik, verweist auf Erfahrungen in Naturschutzgebieten. Dort werde bei der Offenhaltung bewusst auf Schafe verzichtet, um seltene Blumen zu erhalten, sagt sie. Als selektive Fresser mit einer Vorliebe für Kräuter und Blütenpflanzen förderten die Schafe eher eine Grasflora, dies zuungunsten einer Kräuterflora, so Wehrli. Das habe wiederum Auswirkungen auf die Diversität der Insektenfauna.

Genau dieser Effekt galt aber bisher als grosses Plus der Schafhaltung. Denn eine geschlossene, gut durchwurzelte und kurz gehaltene Grasnarbe gilt als guter Schutz gegen Erosion und Bodenabtrag. So werden die Deiche, die an der Nordseeküste das Land vor Sturmfluten schützen wollen, traditionell mit Schafen beweidet, um Schäden am Erdwerk vorzubeugen. Auch an erosionsgefährdeten Hängen in den Alpen sei es «sicher nicht schlecht», das Gras kurz zu halten, sagt Christian Rickli von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft. Sinnvoll sei eine möglichst extensive Beweidung.

Rickli verweist auf die sogenannte Bleiken-Erosion: Pflanzen frieren in steilen Hängen in die Schneedecke ein. Bewegt sich diese, werden sie mitgerissen. Die Grasnarbe wird dabei verletzt. Dringt Wasser ein, erodiert die Stelle weiter. Im hochalpinen Gelände, wo Vegetationswachstum und Bodenbildung langsam vor sich gehen, ist dieser Prozess nur schwer zu stoppen und kann zu Murgängen und Hangrutschungen führen.

Schwieriger Übergang

Überraschend nicht nur ZiegenDie besten vierbeinigen Landschaftspfleger für verbuschte AlpweidenDonnerstag, 7. April 2022 Nach Lehrbuch müsste auf nicht mehr beweideten Flächen unterhalb der natürlichen Waldgrenze Wälder entstehen, in höheren Lagen alpine Rasen- und Pioniergesellschaften mit hoher Artenvielfalt. In der Praxis ist es aber komplizierter. Wo zum Beispiel die Grünerle aufkommt, wird die Rückentwicklung zum Bergwald gestoppt. Am Albulapass läuft deshalb ein Pilotprojekt von ETH und Agroscope: Um die Grünerle zurückzudrängen und das Aufkommen von Wald zu ermöglichen, werden dabei Engadinerschafe, Dexter-Rinder und Ziegen eingesetzt. «Der Aufwand für eine derartige Beweidung ist aber gross und wird durch die Wolfsproblematik zusätzlich erhöht», sagt Manuel Schneider von Agroscope.

Bisher beweidete Flächen im Hochgebirge einfach aufzugeben, sei aber ebenfalls nicht unproblematisch, so Schneiders Fazit: «Problematisch ist vor allem die Übergangsphase in den ersten Jahren nach der Aufgabe.» Ein Anstieg von Erosion und Bodenabtrag könne eine Dynamik in Gang setzen, die eine Rückkehr zu einer stabilen natürlichen Vegetation verunmögliche. Gerät das Landschaftsökosystem aus dem Gleichgewicht, hat dies Folgen für die Hangstabilität, das Verhalten der Fliessgewässer und der Schneedecke – und damit auch für die Sicherheit der Bevölkerung im Tal.

Verstärkte Erosion

Die zugrunde liegenden Prozesse sind nach wie vor nicht umfassend erforscht. So kam eine 2013 in der Zeitschrift «Forum Kleinwiederkäuer» publizierte Arbeit von Forschenden der Universität Basel zum erstaunlichen Befund, dass die Bodenerosion auf Alpen, die zwischen 1990 und 2000 von der bis dahin praktizierten Standweide auf Umtriebsweide umgestellt hatten, zugenommen habe – dies obwohl vor der Umstellung eine abnehmende Tendenz festgestellt worden war.

Dabei hatte die Umtriebsweide der Bodenerosion entgegenwirken sollen. Deutlich auch der Befund zur Entwicklung auf aufgegebenen Weideflächen: «Nach der Umstellung des Weidesystems ist die Bodenerosion auf den Alpen mit Nutzungsaufgabe noch stärker gestiegen als auf den Umtriebsweiden», heisst es in der Publikation. «Damit entsprechen die beobachteten Entwicklungen zunächst nicht den Erwartungen.»

«Das System ist komplex», sagt Nina Gerber von der Stiftung Kora. Sie ist Kora-Programmleiterin für das integrierte Management und Monitoring. Um den Einfluss der Raubtierpräsenz auf ein Ökosystem zu verstehen, reiche es nicht aus, nur einen oder zwei Faktoren zu erfassen. Bei der Waldentwicklung spiele nicht nur die Zahl der Grossraubtiere und der Beutetiere eine Rolle, sondern auch Veränderungen in ihrem Verhalten, der Zustand der Vegetation und der Einfluss anderer Störungen. Mit einem Pilotprojekt am Stockhorn will Kora nun erstmals versuchen, ein umfassendes Monitoring für ein gesamtes Ökosystem auf die Beine zu stellen. Erste Resultate seien in etwa zwei Jahren zu erwarten.

Herden werden grösser

Mit der erhöhten Wolfspräsenz hat die Entwicklung hin zur Aufgabe der nur schwer schützbaren Flächen bereits eingesetzt. Geregelt wird der Prozess über den Markt. Denn die Schafhalter lassen ihre Tiere lieber auf Alpen weiden, die als gut geschützt gelten. «Man merkt, dass Alpen, die behirtet sind, gut ausgelastet sind und Zulauf haben», sagt Doris Werder vom Beratungsbüro Alpe. Alpen ohne Behirtung seien dagegen immer schlechter ausgelastet.

Das veränderte Weidemanagement habe Auswirkungen auf die Vegetation: Das nächtliche Einpferchen grosser Herden hinterlasse Spuren, steile Hänge in schwierigem Gelände würden dagegen weniger oder gar nicht mehr beweidet, so Werder. Damit sich Hirt und Hunde lohnen, werden die Schafe in grösseren Herden gehalten. «Wenn wir ehrlich sind, lohnt sich eine Behirtung erst ab etwa 50 Normalstössen», sagt sie. «Darunter zahlt man drauf.»