Im Saal herrscht konzentrierte Stille, während Vertreter(innen) verschiedener Akteure entlang der Wertschöpfungskette ihre Sichtweisen darlegen. Diese Inputs bildeten in Olten den Auftakt des Bürger(innen)rats, der bis Ende Jahr Empfehlungen für eine nachhaltige Schweizer Landwirtschafts- und Ernährungspolitik ausarbeiten soll. Am ersten Treffen der Bürgerinnen und Bürger gab es auch einige Diskussionen – allerdings nicht primär um die landwirtschaftliche Produktion.

Die Ware muss auch gekauft werden

Projekt mit ausgelosten TeilnehmendenReaktionen zum Bürger(innen)rat von «unnötig» bis «Chance»Donnerstag, 19. Mai 2022 Die Perspektive der Bauernfamilien vertrat Michelle Wyss vom Schweizer Bauernverband. Sie betonte die Leistungen von Landwirtinnen und Landwirte als Basis der Lebensmittelproduktion genauso wie in der Pflege des Landschaftsbilds. «Es muss aber auch künftig nicht nur umweltfreundlich, sondern auch marktorientiert produziert werden», hält Wyss fest. Wäre nur biologische Ware nachgefragt, würde die Produktion entsprechend flächendeckend umgestellt.

Nicht die Landwirtschaft im Fokus

Nach weiteren Vorträgen, unter anderem von der IG Detailhandel und der Umweltallianz, drehte sich die Diskussion im Plenum mehrheitlich um die Deklaration von Lebensmitteln (z. B. bei Flugtransporten) und die träge Politik.  Das habe sie erstaunt, meint Michelle Wyss, sie deutet es aber als positives Zeichen: «Vielleicht wurde mehrheitlich verstanden, dass ein einzelner Bauer nicht viel verändern kann. Das System ist dafür zu komplex und es braucht alle Akteure entlang der Wertschöpfungskette». Auch während der Gespräche in den Pausen habe sie keinerlei Anfeindungen an die Adresse der Landwirtschaft erlebt.

Der Bürger(innen)rat in Zahlen
Das Gremium setzt sich aus 85 ausgelosten Teilnehmenden zusammen, die die Schweizer Bevölkerung statistisch abbilden sollen. Laut den Trägerorganisationen setzt sich der Bürger(innen)rat wie folgt zusammen:
- 47 Prozent aus städtischem Gebiet
- 34 Prozent vom Land
- 19 Prozent aus der Agglomeration
- 54 Prozent Männer
- 91 Prozent mit Schweizer Staatsbürgerschaft
- 62 Prozent mit höherer Ausbildung (FA, HF, Studium)
- 33 Prozent mit mittlerer Ausbildung (Lehre, Fachmittelschule, Berufs- oder gymnasiale Maturität)
- 2 Prozent mit tiefer/obligatorischer Ausbildung (Ohne Ausbildung, obligatorische Schule, 1-jährige Ausbildung)
- 88 Prozent sehr oder eher an der Politik interessiert
- 11 Prozent er oder überhaupt nicht an der Politik interessiert

«Der wichtigste Hebel ist der Mensch»

Als zweiter Vertreter der Landwirtschaft hielt Hansjörg Jäger, Geschäftsführer der Agrarallianz ein Referat. «Alle haben dasselbe Ziel, nämlich gesunde Menschen, Tiere und Umwelt sowie ein gutes Gewissen beim Konsumieren», stellte er klar. Die Gesundheitskosten von 80 Milliarden Franken – im Vergleich zu je nach Rechnung bis zu 8 Milliarden Ausgaben für die Landwirtschaft – sind nach Jägers Meinung das grösste Problem. Ohne den Menschen, den wichtigsten Hebel, gebe es keine Lösungen, «aber glücklicherweise sei der Mensch lernfähig». Gutes gelte es zu verstärken. So sei etwa das pestizidfreie Getreide von IP-Suisse mittlerweile am Markt angekommen, gibt Jäger ein Beispiel.

«Das Schweizer Ernährungssystem ist immer international»

Tina Goethe von Alliance Süd kontrastierte mit einer internationaleren Perspektive die oft genannte Herausforderung, mehr Lebensmittel für eine wachsende Bevölkerung produzieren zu müssen: «Es werden viermal mehr Kalorien produziert als gebraucht». Nur lande der Grossteil entweder als Treibstoff im Tank oder als Futter im Trog. «Produziert wird, was rentiert, nicht was ernährt.» Die Weltbank habe arme Länder dazu angehalten, sich auf den Export auszurichten und Devisen anzustreben. Die Folge seien riesige Monokulturen. «Da gibt es keine Biodiversität. Mit hohem Input müssen für die Hochleistungspflanzen quasi Laborbedingungen geschaffen werden», schildert Goethe. Ihre Lösung ist die Stärkung regionaler Märkte und der Menschen in der Landwirtschaft.

Bei Gesprächen um die Schweizer Ernährungspolitik auch das Ausland im Blick zu haben, begründete die Referentin mit der Abhängigkeit von Importen und auch der Anwesenheit globaler Akteure wie Nestlé oder Syngenta in der Schweiz. «Das Schweizer Ernährungssystem ist immer international», ist Goethe überzeugt.

Virtuelle Treffen und Lernreisen geplant

Die Inputreferate diskutierten die Bürger(innen) in Kleingruppen, jeweils mit Fokus auf Umwelt, Soziales, Gesundheit, Wirtschaft oder Produktion. Mit dem Auftakt zeigen sich die Veranstalter zufrieden, man sei sehr gespannt auf das Endresultat. Bis dieses vorliegt, gibt es noch eine Menge Informationen und Diskussionen: Weiter geht es nach dem ersten physischen Treffen mit acht digitalen Sitzungen und Lernreisen im kommenden Sommer, einem weiteren Zusammenkommen im Herbst. Im November dann folgt ein Abschlusswochenende. Die Übergabe der Empfehlungen an die Politik ist für den 2. Februar 2023 vorgesehen.

 


Stimmen aus dem Bürger(innen)rat

Da der Bürger(innen)rat die Schweizer Bevölkerung repräsentiert, ist das Gremium sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Das gilt nicht nur für den beruflichen, politischen oder sozialen Hintergrund, sondern auch für persönliche Ansichten. Wir haben mit einer Landwirtin und einem Tourismusfachmann über ihre Erlebnisse am Auftaktwochenende gesprochen.

«Viel wurde nur oberflächlich angeschnitten»

[IMG 2]Martina Stettler führt in Eggiwil BE einen Betrieb mit Rindermast. Beim Bürger(innen)rat mitzumachen, sei eine spontane Entscheidung gewesen, schildert sie. In der Kleingruppe sei es ihr wichtig, ihre Sichtweise einzubringen, «denn ich weiss, wovon ich rede», betont die Landwirtin und hofft, so etwas ausrichten zu können. Denn die alten Vorurteile gegenüber der Landwirtschaft seien noch immer präsent. Im Plenum hält sich Stettler aber zurück, um keine Anfeindungen zu riskieren.

Ihrer Meinung nach wurde in den Vorträgen vieles nur oberflächlich angeschnitten. «Zum Waldsterben trägt z. B. nicht nur der Eintrag von Stickstoff durch die Luft, sondern auch die Trockenheit und Borkenkäferbefall bei», gibt die Landwirtin ein Beispiel. Und neben Kühen gäbe es weitere wichtige Quellen von Methan.

Vielen im Rat sei ausserdem nicht bewusst, welche Vorschriften und Faktoren bei der landwirtschaftlichen Produktion mitspielen. Sie denke da an grössere Betriebe, die Preise drücken können, aber auch die Erwartungen von Konsumentenseite. Dass der Bürger(innen)rat viel bewirken wird, bezweifelt Martina Stettler: «Der Bundesrat macht am Ende was er will. Es geht um Geld und Wiederwahlen». Trotzdem hofft sie auf ein gutes Endergebnis und dass zumindest einzelne Vorschläge von der Politik aufgenommen werden. «Auf jeden Fall ist der Rat eine Abwechslung zum Alltag und es ist gut, die Perspektive anderer Leute zu sehen», findet die Landwirtin.

«Die Vorträge waren tendenziös»

 «Ich habe die Illusion, politisch etwas bewegen zu können», begründet Alan Savar seine Teilnahme gegenüber der BauernZeitung. Der Tourismusfachmann aus Mühleberg BE würde auf die lokale Produktion, weniger Abhängigkeit von Importen und weniger Schranken für die Landwirtschaft setzen. «So könnten z. B. mehr alte Kartoffelsorten genutzt werden», führt er seinen Lösungsvorschlag aus. Die Inputreferate habe er als sehr tendenziös erlebt, was angesichts ihrer Funktion der Interessensvertretung nicht anders zu erwarten gewesen sei. Nach wie vor glaubt Alan Savar aber nicht, dass der Mensch etwas am Klimawandel ändern könnte und bezeichnet den Klimaschutz daher als «Blödsinn». «Man sollte sich vielmehr um die Anpassung daran kümmern», findet er. Vorschläge aus dem Rat zu Beginn und ohne vorherige Referate auf den Tisch zu legen, hätte der Berner sinnvoller gefunden. «Ob sich die Teilnahme als Bürger gelohnt hat, wird sich zeigen ­– letztlich bleibt es ja bei Empfehlungen für die Politik», gibt er zu bedenken.[IMG 3]