Die Original Braunen tragen imposante Hörner. Dennoch sehen sie eher klein aus neben Lino Wiederkehr. Der 187-cm-Mann bewegt sich entspannt in der Herde. «Die Tiere sind sehr zutraulich», versichert er und krault da und dort einen Nacken. Dass er Kühe mag, muss er gar nicht erst erzählen. Zuchtmuni Golden bleibt wohlwollend auf Distanz. Im Bedarfsfall könnte Lino Wiederkehr aus dem Nichts einen Ausfall antäuschen und wäre blitzschnell weg. Das gehört für ihn zum Alltag: Der 18-jährige Handballer steht beim HSC Suhr Aarau als Elitejunior unter Vertrag.
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Doppelter Einsatz gefragt
Dort leistet Lino Wiederkehr wöchentlich sieben Trainingseinheiten und von September bis April am Wochenende zusätzlich Meisterschaftsspiele. Parallel dazu absolviert er die Ausbildung zum Landwirt, also in einer Branche mit langen Arbeitszeiten und körperlichem Einsatz.
«Es ist schon anstrengend», das redet Lino Wiederkehr nicht schön, «am Abend bin ich jedenfalls müde.» Aber das passe gut. Die Arbeit auf dem Landwirtschaftsbetrieb betrachtet er als Krafttraining für den Sport und umgekehrt nützt ihm seine Fitness auf dem Bauernbetrieb. «Ich schaue, dass ich genügend schlafe, mich gut ernähre und Pausen nutze, um runterzufahren.»
Für den Ausgang mit Kollegen bleibt nicht viel Zeit. Die meisten sind auch Handballer, sie gamen dann halt mal online zusammen, statt sich auswärts zu treffen.
Er sagt das Spiel an
Als Handballer spielt Lino Wiederkehr auf der Position Mitte-Rückraum und baut dort das Spiel auf. Er sagt den Teamkollegen die Spielzüge an, verteilt Bälle, bricht in Deckungslücken ein. Er ist gut darin, den Überblick und einen kühlen Kopf zu behalten. Worin er besser werden möchte? «Selber mehr aufs Goal gehen», sagt er. Tore sind schliesslich das, was zählt. Leistungsdruck gehört für den Junior zum Alltag. Diesen Sommer stehen Tests an, «gemessen werden Geschwindigkeit, Sprungkraft, Kraft allgemein, Balance. Halt alles Mögliche», erzählt er. Unter anderem davon hängt es ab, in welche Liga ihn sein Club nächste Saison einteilt.
Nur nicht zu cool
Nein, dieser Druck stresse ihn nicht gross, gibt er Auskunft. Zu cool darf er es aber auch nicht nehmen. Er wird sehr fokussiert zu diesen Tests antreten, wie auch zu jedem Spiel. Seine Gegner auf dem Feld kennen ihn nicht so friedlich, wie er sich jetzt gerade inmitten der Braunviehkühe bewegt. Im Wettkampfmodus ist keine Sanftheit gefragt, Handball ist ein Vollkontakt-Sport. Lino Wiederkehr blieb auch schon mit einer Gehirnerschütterung am Boden liegen und bekam zwei Wochen Pause verschrieben. Ein anderes Mal verletzte er sich auf dem Betrieb und musste pausieren. Da sind Sport und Arbeit also quitt.
Für den Lehrmeister ist das ein schwacher Trost, denkt man sich da: Der muss schon oft genug auf seinen Lernenden verzichten, wenn er gesund ist. «Wir wussten ja von Anfang an, dass er oft weg ist», sagt Berufsbildner Roger Gysi. Er fährt gerade mit dem Traktor über den Hofplatz und ist auf dem Sprung, doch ein paar Sätze zu seinem Lernenden sagt er gern.
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Auch ohne diesen würde sein Betrieb funktionieren, erklärt der Landwirt, «aber wenn Lino da ist, gibt es natürlich Arbeit für ihn. Und dann zeigt er vollen Einsatz.» Gysi fuhr in jüngeren Jahren international Motocross, seine Frau Silvia spielte Landhockey. Die beiden kennen die Leidenschaft für den Sport und haben Lino Wiederkehr darum die ersten beiden Lehrjahre auf ihrem Betrieb im aargauischen Buchs ermöglicht.
Das dritte Lehrjahr absolviert Lino Wiederkehr in Oberkulm, ebenfalls auf einem Milchwirtschafts- und Ackerbaubetrieb.
Viel Ackerbau
Auf dem Betrieb Gysi beginnt er morgens um 6 Uhr mit Melken und Stallarbeit bei den 15 Original-Braunvieh-Kühen und Aufzuchtrindern.
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Rund die Hälfte der Milch wird von der Kundschaft am Selbstbedienungsautomaten gezapft, der Rest geht an Emmi. Nach der Stallarbeit gibt der Ackerbau auf dem 54-Hektaren-Betrieb zu tun. Eine ideale Kombination für Lino Wiederkehr. Er schätzt Abwechslung bei der Arbeit, und noch ein bisschen lieber als Kühe mag er Traktoren. Den Umgang mit Tieren und Maschinen musste er lernen. Er ist nicht auf einem Bauernhof aufgewachsen, aber die Landwirtschaft hat ihn seit Kindheit fasziniert, nach dem Schnuppern war sein Berufswunsch definitiv klar. Er habe schnell gelernt, sagt Berufsbildner Gysi über seinen Lernenden, aber natürlich habe man aufbauen müssen. Zum Beispiel das Traktorfahren. Der Betrieb steht mitten in Buchs, die Stadt Aarau ist nahe und der Verkehr dicht, «da konnte ich ihn nicht einfach mit den grossen Maschinen auf die Strasse schicken.» Mittlerweile überlässt er ihm den Traktor unbesorgt auch mit dem 3,5-Meter-Frontmähwerk.
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Wo sich Lino Wiederkehr in ein paar Jahren sieht, darüber spekuliert er jetzt noch nicht gross. Auf jeden Fall mit dem Fähigkeitszeugnis als Landwirt in der Tasche. Ansonsten als Nationalliga-A-Handballer oder vielleicht sogar in der deutschen Bundesliga? Ein solches Angebot würde er natürlich nicht ausschlagen, aber nur auf die Sportkarte setzt der Aargauer nicht. Ihm ist klar: «Mit einer ernsthaften Verletzung würde sofort alles anders aussehen.» Er könne sich vorstellen, nach der Landwirtschaftslehre noch die Polizeischule zu machen.
Aber jetzt geht Lino Wiederkehr erst mal zäunen. Und läuft am Abend zum Handballtraining in der Turnhalle auf. Dort geht es derzeit noch strenger zu und her als während der Meisterschaftssaison, «jetzt haben wir ja selten Spiele am Wochenende und müssen aufbauen», kommentiert er. «Handball und Landwirtschaft sind zwei Leidenschaften von mir. Es würde nicht funktionieren, wenn ich nicht beides sehr gerne machen würde.»
Lino Wiederkehr
Wohnort: Aufgewachsen in Wettingen AG, aktueller Lehrbetrieb Buchs AG, ab August Oberkulm AG
Daten: 18 Jahre, 187 cm, 84 kg
Ausbildung: 2. Lehrjahr Landwirt EFZ, Team U19 Elitejunioren beim HSC Suhr Aarau
Erfolge: Für den Schweizermeister-Titel hat es noch nicht gereicht, aber dreimal für den zweiten Platz. Beim vierten Mal war das Team sehr gut auf Kurs, dann beendete Corona die Saison.