Wie ist es, wenn man neu in ein Dorf zieht? An einen Ort, an dem sich scheinbar schon alle kennen und jeder seinen Platz gefunden hat?

Wie erlebte eine heute über 80-jährige Bäuerin den Umzug, als sie als 18-Jährige mit ihren Eltern auf einen Pachthof gezogen war? Wie eine Städterin, die vor 20 Jahren ins Dorf kam? Wie eine junge Mutter, die noch kein Jahr im Ort lebt? Lilian Fankhauser hatte zum Thema «Neu im Dorf» zu einem «Erzählcafé» im bernischen Diemerswil eingeladen. Sechs Frauen aus vier Generationen kamen.

Ohne Small Talk

Ein Erzählcafé ist ein Vernetzungsanlass ohne Small Talk. In der Regel besteht so ein Treffen zum einen aus einem moderierten Erzählteil, bei dem man in einer Runde sitzt. Zum anderen aus einem Ausklang bei Kaffee oder Apéro und mit Zeit für individuelle Gespräche.

Der Erzählteil hat ein vorgegebenes Thema. Wie eben «neu im Dorf», oder «mein Lieblings-Kinderbuch» oder «meine erste Reise». Lilian Fankhauser: «Durch das niederschwellige Thema entstehen Kontakte, sei es zwischen den Generationen oder auch interkulturell.» Man könne das Thema auch steuern, etwa soziale oder gesellschaftliche Fragen ins Zentrum stellen, zum Beispiel, wenn ein Dorf mit der Nachbargemeinde fusioniert.

Von der Stadt ins Dorf

Lilian Fankhauser selbst ist vor 20 Jahren aus der Stadt Bern auf den Hof ihres Mannes Bernhard Minder gezogen. Die «Wegmatte» ist heute ein Biobetrieb mit Umstellung auf Demeter. Zum 20-Hektaren-Hof gehören 25 Kühe der Zweinutzungsrasse Montbéliarde und 35 Hühner.

Es leben, in verschiedenen Wohneinheiten, neun Erwachsene und zehn Kinder auf dem Hof, doch nur Bernhard Minder arbeitet vollamtlich auf dem Betrieb. Lilian Fankhauser kümmert sich um den Garten, das Gemüse, die Hühner, die Website und den Newsletter. Hauptberuflich ist die Mutter von drei Töchtern aber Co-Leiterin der Abteilung für die Gleichstellung von Frauen und Männer an der Universität Bern.

Keine Diskussionen

Zu den Spielregeln eines Erzählcafés gehört weiter, dass nicht über das vorgegebene Thema diskutiert wird, es gibt kein Pro und Contra. Nur eine Person spricht, alle hören zu. Niemand muss etwas erzählen. Die Gesprächsinhalte bleiben vertraulich. Sie werden wertschätzend aufgenommen und nicht kommentiert. «Es gibt auch keine Erwartungen an das Ergebnis des Anlasses», erklärt Lilian Fankhauser weiter. Es gehe darum, Hürden abzubauen. «Man kommt sich nahe, ohne dass es psychologisch wird, denn wir sind alle keine Therapeutinnen.»

Mit Tiefgang

Wie schnell die Erzählungen dabei in die Tiefe gehen können, zeigte ein «Erzählcafé»-Workshop an der Tagung «Frauen in der Landwirtschaft» diesen Frühling im bernischen Zollikofen. Das Thema drehte sich um «Mehrgenerationenhaushalte». Junge wie gestandene Frauen berichteten offen von ihren Erfahrungen als Töchter, Schwiegertöchter, Mütter und Schwiegermütter.

Die einen erzählten von herzlichen, unterstützenden Beziehungen zur jüngeren oder älteren Generation. Andere von Grenzüberschreitungen, mangelnder Wertschätzung, überholten Vorstellungen und Überforderung. «Ich fand es beeindruckend, wie reflektiert die jungen Frauen waren», erinnert sich Lilian Fankhauser. «Das gab mir viel Stoff zum Nachdenken mit auf den Weg.»

So erklärte eine junge Teilnehmerin aus der Bäuerinnenschule, sie setzte den Kontakten zu ihrer sehr geschätzten Schwiegermutter manchmal bewusst Grenzen, um die Beziehung zu schützen. «Aus Liebe. Denn wenn ich gereizt auf sie reagiere, ist das für mich ein Signal, dass ich selbst eine Pause brauche und nicht, dass sie anders sein muss.» Dies habe viel mit Achtsamkeit und Wertschätzung sich selbst gegenüber zu tun. «Für mich ist das etwas ähnliches wie die Zeigerpflanzen auf der Wiese: Die Pflanze geben uns Hinweise, was unter der Oberfläche los ist.»

Auch Lilian Fankhausers Erzählcafé in ihrer Wohngemeinde Diemerswil hat Früchte getragen. «Eine der Neuzuzügerinnen sagte mir später, sie hätte nie gedacht, dass hier so coole Leute wohnen», erzählt sie lächelnd. Einige der Frauen treffen sich zudem bis heute an einem Abend pro Woche zum «Schnurpfen»: zu Handarbeiten und einem Glas Wein.

Weitere Informationen: www.wegmatte-diemerswil.ch

Netzwerk Erzählcafé
Das «Netzwerk Erzählcafé Schweiz» wurde 2015 vom Migros­ Kulturprozent und der Fachhochschule Nordwestschweiz initiiert. Bereits seit Ende der 1980er-Jahre wird die Methode «Erzählcafé» als Form der Biografiearbeit in der Sozialarbeit eingesetzt. Die Idee fiel vor allem in Berlin nach dem Fall der Mauer auf fruchtbaren Boden.

Wer in der Schweiz ein «Erzählcafé» in seinem Dorf organisieren möchte, findet auf der Website «Netzwerk Erzählcafé» zum einen grundlegende Informationen zu Organisation, Voraussetzungen und Ablauf. Es findet sich dort zudem eine Liste mit Moderatorinnen, die angefragt werden können. Oder man kann sich für einen kostenlosen Online-Crashkurs anmelden, falls man selbst ein «Erzählcafé» auf die Beine stellen möchte.

Auch Lilian Fankhauser steht für Fragen oder Kurz-Coachings zur Verfügung. Aus Erfahrung weiss sie zudem: «Die Hemmschwelle für die Teilnehmenden istbei einem ersten Erzählcafé recht gross. Dann wird es besser. Denn sich mit anderen verbinden macht einfach glücklich.»

Weitere Informationen: www.netzwerk-erzaehlcafe.ch