Als das Gatter aufgeht und Albula, Korsika, Alkor das Stallabteil betreten, kommt Bewegung in die Gruppe von neun Kälbern. Das Heu, das sie eben noch gefressen haben, interessiert die vier bis fünf Monate alten Jungtiere plötzlich nicht mehr. Ungestüm springen sie auf, eilen zu den drei Milchkühen, suchen nach einer freien Zitze und beginnen zu saugen.

Kühe, die ihre Kälber säugen: Was in der Mutterkuhhaltung zwar gang und gäbe ist, hat Seltenheitswert auf Milchbetrieben. Dort wachsen Kälber normalerweise ohne Muttertier auf. Kurz nach der Geburt werden sie getrennt. Die Kühe werden gemolken, die Kälber werden in einem separaten Stallabteil untergebracht und mit Milch aufgezogen, die sie aus einem Nuckeleimer erhalten.

Nicht so auf dem Gut Rheinau, einem 120 Hektaren-Betrieb nahe der Stadt Schaffhausen, der nach Demeter-Richtlinien bewirtschaftet wird. Landwirt Andreas Wälle, verantwortlich für den dortigen Milchbetrieb, lässt die Kälber am Euter der Kühe saugen und das, was noch übrig bleibt, melkt er. Mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht heisst das in der Branche. Die natürlichste Form der Aufzucht sei das, erklärt Wälle. Der 49-Jährige gehört zu den Pionieren, seit 15 Jahren praktiziert er diese Form der Kälberaufzucht. Diese stösst laut dem Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) bei immer mehr Bauern auf Interesse.

Arbeitsaufwand nimmt ab

Wälle lässt die Kälber nicht nur aus Tierliebe bei ihren Müttern saugen, weil er ihnen eine innige Beziehung ermöglichen will. Die muttergebundene Kälberaufzucht hat für ihn auch handfeste Vorteile: Der Arbeitsaufwand verringert sich. Wälle muss nicht mehr Milch aufwärmen, diese in Eimer abfüllen, zu den Kälbern tragen und danach die Eimer wieder waschen. "Ein enormer Aufwand ist das", erklärt Wälle. Die Zeit, die er spare, investiere er in das Beobachten der Tiere. Blieben Kalb und Mutter immer zusammen, könne es passieren, dass die Kälber sich nicht an den Menschen gewöhnen und somit "verwildern". "Man muss aufpassen, dass man den Kontakt zu den Kälbern nicht verliert", sagt der Landwirt.

Gesündere Kälber

Mit gängigen Problemen wie Atemwegserkrankungen und Durchfall, die in der herkömmlichen Aufzucht weit verbreitet sind, hat Wälle weniger zu kämpfen. "Meine Kälber sind viel gesünder", ist Wälle überzeugt. Zudem würden sie schneller an Gewicht zulegen als in der konventionellen Aufzucht. Auch einen Wachstumsstilland, wie er sonst eintritt, wenn die Fütterung von Milch auf Raufutter umgestellt wird, gebe es viel weniger.

Ein weiterer Vorteil der muttergebundenen Kälberaufzucht sei, dass die Kälber ihren Saugdrang ausleben könnten. In der konventionellen Aufzucht sei das weniger der Fall, die Kälber würden sich stattdessen teilweise gegenseitig besaugen, was eine Verhaltensstörung sei.

Weil teils mehrere Kälber an einer Kuh saugen, könne es vorkommen, dass Zitzen der Kühe verletzt werden, räumt Wälle ein. Und manch einer Kuh falle es schwer, sich nach drei bis vier Monaten vom Kalb zu trennen. "Ich finde es aber schlimmer, wenn Kuh und Kalb gleich nach der Geburt getrennt werden", sagt Wälle.

Michael Wahl, lid