«Wie chippe ich eine Schildkröte?» Diese Frage musste sich meine Mutter kürzlich stellen, weil die Schildkröte, die sie zusammen mit meinem Vater hätte hüten sollen, ausgebüxt war und nur dank einer Reihe unwahrscheinlicher Zufälle wieder im Garten meiner Eltern landete.
Aber es ist eine lange Geschichte. Ich muss vorne anfangen. Es ist eine typische Story meiner Eltern, denke ich mir. Sie sind zu grossherzig, um dem Arbeitskollegen diesen Gefallen nicht zu tun. Schnell war die Abmachung getroffen; sie würden das Tier während fünf Wochen hüten.
Von der Plastikschale in der Stube gehts raus in den grossen Garten
Das «Problem» war, dass es meine Eltern es nicht aushielten, das gepanzerte Haustier in der Plastikschale in der Stube zu halten, wie es sein Besitzer sonst handhabt. Zu gross war ihr Einfühlungsvermögen. «Das geit doch nid», sagten sie und hoben das unbeholfene Tier in die Höhe und verlegten sein temporäres Zuhause in den Garten.
[IMG 3]
Nach nur zwei Tagen «brannte» es im Whatsapp-Familienchat. Die Schildkröte sei weg, meinten meine Eltern. Abgehauen. Es habe die Freiheit gerochen und die Chance gepackt. «Furt». Wie sollte man das jetzt dem Arbeitskollegen beibringen und wie würde seine Tochter wohl reagieren? Das Drama war perfekt.
Was tun? TierWelt-Inserate konsultieren
Mein Reflex war, in der «TierWelt» nach sogenannten «Stunt»-Schildkröten Ausschau zu halten, während meine Schwester das schlechte Gewissen meines Vaters zu beruhigen versuchte. Und tatsächlich: «Günstig abzugeben: Zwei Landschildkröten, männlich, griechisch, mit Papieren». Natürlich haben wir uns letztlich nicht für diesen Ausweg aus dem Schlamassel entschieden, sondern mein Vater hat seinem Arbeitskollegen alles gebeichtet. «Schon okay, ihr habt es ja nur gut gemeint», hiess es dann von der anderen Seite Europas, wo sich der Arbeitskollege zu entspannen versuchte. Aber die Geschichte endet hier noch lange nicht.
Das schlechte Gewissen meiner Eltern war gross. Die ganze Nachbarschaft suchten sie ab nach dem gut getarnten Tier, welches man nicht einmal sieht, wenn man praktisch draufsteht.
[IMG 2]
Dann begannen die Steine des «Zufalldominos» einer nach dem anderen zu fallen.
Zufall Nummer eins: Unser Nachbar, der Landwirt aus der Stolzenmühle, bemerkt einen eigenartigen Haufen auf dem Kiesweg. Er hält an, betrachtet das merkwürdige, verlorene Tier und übergibt das Problem seiner Frau.
Zufall Nummer zwei: Diese meldet das Tier der Wildhut. Der Wildhüter meint, wenn man die Schildkröte der Polizei übergeben würde, würden sie das Tier wohl einschläfern, wenn sich der Besitzer nicht innert nützlicher Frist meldet. Der Wildhüter übergibt das Tier mangels besserer Ideen dennoch der Polizei.
Zufall Nummer drei: Ausgerechnet an diesem Abend ist eine Polizistin im Wachtdienst, welche heimatlose Schildkröten zu Hause «zwischenlagert», weil sie Mitleid mit ihnen hat. So ging es dann auch der Schildkröte meiner Eltern.
Zufall Nummer vier: Die Polizistin nimmt die Schildkröte vom Polizeiposten zu ihr nach Hause und meldet es auf der Webseite der Schweizerischen Tiermeldezentrale.
Zufall Nummer fünf: Mein Vater surft an einem langweiligen Freitagabend auf ebendieser Webseite und….Zufall Nummer sechs: stolpert über den Eintrag: «Schildkröte gefunden, Stolzenmühle, Schwarzenburg».
Zufall Nummer sieben: Die Polizistin aus dem Emmental ist am gleichen Abend in Schwarzenburg, wo meine Eltern wohnen, zum Abendessen eingeladen. «Ich bringe die Schildkröte gleich vorbei», meint sie am Telefon.
Wenn man eine Tierärztin als «Hüetemeitschi» hat
Nach dieser Exkursion in die Stolzenmühle, auf den Polizeiposten, ins Emmental und wieder zurück in den Garten meiner Eltern kroch die griechische Landesschildkröte unter den dichten Fliederbusch und machte keinen Wank mehr. Am nächsten Tag wurde der Flüchtling dann gechipt und gewogen. «110 Gramm hat sie verloren», bemerkte meine Mutter, die Kleintierärztin, die (Zufall Nummer acht) die Schildkröte vor ihrer Flucht auf die Waage gesetzt hatte.
Die Gedanken, die man beim Misten hat
Diese Geschichte geht mir durch den Kopf, als ich beim Misten hinter mir das Tor weit offen lasse und höre, wie sich eine Kuh von der Herde trennt und offenbar wieder in den Stall zurückkehren will. Ich beobachte sie, las sie, schätze ihr Verhalten ein und schaue nochmals zur Kuh, die mit ihrer ungebremsten Masse in Richtung des offenen Tores zusteuert. Aber ich lasse die Lücke bewusst offen.
Die Kuh interessiert das offene Tor nicht
Meine Einschätzung war richtig: Ohne eine Sekunde zu zögern, zieht das Tier am Tor vorbei, direkt in den Stall. Die «Freiheit», welche ihr zu Füssen liegen würde, interessiert sie nicht. Sie will unter die Sprinkleranlage. Mehr nicht.
Wenn wir wirklich über Tierwohl sprechen wollen, dann erklären Sie mir, warum die Schildkröte einen 30 Zentimeter hohen Sperrplatten-Zaun überquert, um aus ihrem Gehege auszubrechen und warum sich das Nutztier trotz aller Möglichkeiten freiwillig in den Stall parkiert.
Aktuelle Tierschutz-Statistik der STS
Gerade eben hat der Schweizer Tierschutz die aktualisierte Tierschutz-Statistik des laufenden Jahres veröffentlicht. Diese gibt an, dass ein deutlicher Anstieg bei abgegebenen Schildkröten zu verzeichnen ist. So waren es im Jahr 2022 804 abgegebene Tiere. 2021 waren es gemäss Statistik 742.
Tierheime haben im Jahr 2022 insgesamt 13 032 Tiere aufgenommen. Das sind etwas weniger als im Vorjahr (2021: 13 511), wie der STS vermeldet. Davon waren 7019 Verzichttiere, also Tiere, auf welche die Tierhaltende freiwillig verzichten wollten (2021: 7131). 5128 waren Findeltiere, also Tiere, die von Dritten aufgefunden wurden (2021: 5446). 887 Tiere stammten aus amtlichen Beschlagnahmungen (2021: 937).
- Katzen wurden letztes Jahr insgesamt 7183 aufgenommen (2021: 7724). Mit 301 Katzen ist die Anzahl Tiere aus amtlichen Beschlagnahmungen gestiegen (2021: 247).
- Nagetiere wie Mäuse, Ratten, Hamster, Meerschweinchen sowie Kaninchen wurden letztes Jahr total 2061 aufgenommen (2021: 2220).
- An dritter Stelle sind Hunde, von denen letztes Jahr total 2041 aufgenommen wurden (2021: 2012). Davon konnten mit 635 Hunden etwas mehr als im Vorjahr an ihre Halterinnen und Halter zurückgegeben werden (2021: 574).
- Gestiegen ist mit total 313 die Zahl der Exoten, hauptsächlich Reptilien, die letztes Jahr von den STS-Tierheimen und spezialisierten Auffangstationen aufgenommen werden mussten (2021: 228).
[IMG 4]