Man ist sich bei der Vogelwarte bewusst, dass Geier generell und Gänsegeier im Speziellen keinen guten Ruf geniessen. In einer Mitteilung weist die Stiftung darauf hin, dass eine Sichtung dieser Vögel früher eine Seltenheit war, während sie seit rund zehn Jahren wieder regelmässig bei uns am Himmel kreisen. Mittlerweile dürften demnach – insbesondere dank einem Wiederansiedlungsprojekt in Frankreich – einige Hundert Gänsegeier den Sommer in den Schweizer Bergen verbringen.
Unschöne Szenen im August 2022
Zur heiss diskutierten Art wurde der Gänsegeier Ende August 2022, als eine Gruppe dieser Vögel bei Lumnezia GR an einem noch lebenden, neugeborenen Kalb gefressen haben. Die Verletzungen des Jungtieres seien so schwer gewesen, dass es eingeschläfert werden musste, schildert die Vogelwarte. Die Fachleute der Stiftung stellen den Vorfall aber in einen grösseren Zusammenhang und versuchen, der Angst vor dem Gänsegeier mit fundierten Argumenten zu begegnen.
Gesunde Tiere gehören nicht ins Nahrungsspektrum
«Dass Gänsegeier auch an noch lebenden Tieren fressen können, ist spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt», hält die Vogelwarte fest. Wichtig dabei sei aber, dass es sich in den wenigen ausreichend dokumentierten Fällen bei den betroffenen Tieren um verletzte, kranke, schwache oder frisch geborene gehandelt habe. Wenn sich diese nicht wehren können oder verteidigt werden, könnten die Geier schon am lebenden Körper zu fressen beginnen. «Verteidigte oder gesunde Tiere, die gut gehen können, gehören nicht ins Nahrungsspektrum des Gänsegeiers.» Schliesslich handle es sich bei dieser Vogelart um eigentliche Aasfresser, die mit ihren schwachen Krallen kaum verletzen oder töten könnten.
Meist schon tot
Vorfälle mit Gänsegeiern in Frankreich und Spanien entkräftet die Vogelwarte damit, dass in den allermeisten Fällen niemand vor Ort eine vermeintliche Attacke beobachtet habe. Je nach Studie seien in 70 Prozent der gemeldeten Ereignisse bereits tote Tiere betroffen gewesen. Wo Frass an lebenden Tieren bestätigt wurde, habe es sich um Tiere gehandelt, die nicht mehr gehen konnten und die Veterinärbehörden hätten den Gänsegeier nie als hauptsächliche Todesursache gesehen.
Komplikationen locken Geier an
Der Gesundheitszustand des Kalbs bei Lumnezia sei leider laut dem Amt für Jagd und Fischerei unbekannt. Doch sei dieser Fall in einem ähnlichen Licht zu sehen wie jene im Ausland: Vermeintliche Angriffe wurden entweder bei Kälbern oder gebärenden Kühen registriert. «Geburtskomplikationen, Tot- oder Nachgeburten locken Gänsegeier an und können zu Missinterpretationen ihres Verhaltens oder tatsächlichen Vorfällen führen.»
Abkalbeweiden und Kontrollen
Seit 2022 gibt es in den Kantonen Glarus und Graubünden eine neue «Wegleitung für Abkalbungen auf Sömmerungsbetrieben». Sie schreibt unter anderem eine einsehbare Abkalbeweide mit zwei Strom-Litzen und einem nahen Pferch oder Stall für allfällige Komplikationen vor. Mutterkühe und Kälber müssen bis zwei Wochen nach der Geburt zweimal täglich kontrolliert werden. Ausserdem braucht jede Alp eine definierte Abkalbestrategie. Hier finden Sie eine Checkliste für Abkalbungen im Sömmerungsgebiet vom Amt für Lebensmittelsicherheit und Tiergesundheit Graubünden.
Diese Massnahmen sind als Reaktion auf die Wolfspräsenz zusammengestellt worden, denn «für Grossraubtiere ist eine Geburt eine einladende Situation, um Beute zu machen», heisst es in der Wegleitung. Die Vorkehrungen können aber auch in der Gänsegeier-Problematik präventiv wirksam sein, etwa wenn Tiere bei Komplikationen rasch in einen Stall gebracht werden können.
Videos sind kein Beweis
Insgesamt beruhe die Angst vor Gänsegeiern zu einem grossen Teil auf einer falschen Interpretation ihres Verhaltens. Auch Videos auf Social Media sieht die Vogelwarte kritisch, denn sie zeigten kaum je den Anfang oder das Ende einer Interaktion zwischen Geiern und Nutztieren – auch wenn die Bilder in der Tat unschön und teilweise dramatisch anzusehen seien. «Es ist also meist unklar, was genau vorgefallen ist und in welchem Zustand das Tier war, als die Geier auftauchten. Solche Videos sind also kein Beweis für die Gefährlichkeit von Gänsegeiern für gesunde Nutztiere», ist man bei der Vogelwarte überzeugt.
Meldungen kritisch prüfen
Die Vogelwarte ruft dazu auf, jede Meldung über einen Gänsegeier-Angriff auf gesunde Nutztiere genau zu prüfen:
- Wurde der ganze Angriff von Anfang bis Ende beobachtet oder sogar dokumentiert?
- In welchem Zustand befand sich das betroffene Tier beim Eintreffen der Geier?
- Gibt es Hinweise auf Krankheiten und Verletzungen?
Nur wenn diese Fragen beantwortet werden können, sei es möglich, den Gänsegeier, sein Verhalten und allfällige Massnahmen nüchtern zu diskutieren.
Die Aufräumer im Ökosystem
Als Aasfresser beseitigen Geier Kadaver in kurzer Zeit und sorgen dafür, dass sich Krankheitserreger nicht ausbreiten können. Gänsegeier können laut der Vogelwarte mehrere Kilometer am Tag energiesparend segelnd zurücklegen. Bei der Nahrungssuche helfen ihnen ihre guten Augen: ein 30 cm grosses Stück sehen Gänsegeier auf über 3,5 Kilometer Entfernung. Die Tiere kommen dank Fettdepots zwei bis drei Wochen problemlos ohne Nahrung aus.