Vor meinem ersten Arbeitstag als Alphirte hatte ich noch nie einen Alpbetrieb aus der Nähe gesehen. Es war Anfang August, im Sommer 1983. Jemand war aus einem Kuhalp-Team ausgestiegen, und ich sprang ein, um ein bisschen zu helfen. So hatte ich mir das jedenfalls vorgestellt.

Der neue Kuhhirt war das erste Mal auf einer Alp

An jenem Sonntagnachmittag, als ich mit einem Rucksack oben bei der Hütte ankam, waren auch einige Bauern da. Sie begrüssten mich als «ünscha nüw Chüahirt», was mich nun doch einigermassen erschreckte. Zusammen mit dem Senn holte ich nun die Kühe zu den Ställen. Die Bauern blieben dann noch etwas, wohl um sich zu vergewissern, dass ihr neuer Hirt auch melken konnte.

Am nächsten Morgen herrschte dickster Nebel. Die Tiere von der umzäunten Nachtweide zu holen, war nicht schwierig. Nach dem Melken und dem Frühstück zeigte der Senn den nebelverhangenen Berg hinauf: «Du treibst die Kühe da hoch, bis zum ‹Chrüüz› (damals ein morscher Holzpfosten). Dann lässt du sie ‹iiwärts› weiden, aber immer schön beisammenhalten, sonst laufen sie dir davon. Gegen fünf Uhr bringst du die Herde auf dem Tomül-Weg wieder herunter, zum Melken.» (Als Flachländer war mir der Unterschied zwischen «iiwärts» und «usswärts» nicht ganz klar.)

Es waren ja nur 80 Kühe! Zum Glück hatte mir mein Vorgänger einen seiner Hunde dagelassen, ein braves und tüchtiges Tier. Der Nebel löste sich dann im Laufe des Tages auf, und die Landschaft, die er freigab, war schön.

Viel Zeit mit der Herde verbracht

Aber nicht alles war toll in diesem Sommer. Senn und Zusennin befanden sich im letzten Kapitel ihrer Beziehung, die Tiere hatten übermässig viel Klauen- und Euterprobleme, der Galthirt einen etwas schwierigen Charakter. Ich verbrachte tagsüber so viel Zeit wie möglich bei der Herde und las viel, Bücher, aber auch Heidelbeeren.

Das ist nun beinahe 40 Jahre her. Nach einigen Kuhalpsommern wechselte ich auf eine benachbarte Jungvieh- und jetzt mehrheitlich Mutterkuhalp. Aber auch sonst hat sich über diese Zeit manches geändert, am augenfälligsten sind vielleicht die klimatischen Bedingungen. Die Alpsommer sind länger geworden. Waren es einst gut 80 Tage, sind es jetzt 90 oder gar 100 Tage.

Im Notfall kamen die «Schneemänner» 

Das Pflanzenwachstum setzt früher ein und es ist üppiger, jedenfalls bei genügend Niederschlag. Sommerschnee war bis Ende der Neunzigerjahre gar nicht selten. Oft musste man dann die Tiere einstallen, anketten, mit Heuvorräten füttern, tränken. Notfalls kamen dann zwei bis drei Jungbauern den Hirten zu Hilfe. «Schneemänner» nannte man sie. Zunehmend war das Vieh nicht mehr gewohnt, angekettet zu sein; es gab Unfälle. Aber gleichzeitig gingen die früher oft massiven Sommerschneefälle zu Ende.

Auffallend ist weiter, dass in immer höheren Lagen junge Tännchen aufkommen. Dagegen sind hier oben viele Insekten, vor allem Fluginsekten, fast oder vollständig verschwunden. Wo sind die Falter, die abends zu Hunderten das Hüttenfenster belagerten, um ans Licht zu kommen? Es gibt sie kaum mehr. Keine Grille ist mehr zu hören. Grashüpfer sind weniger geworden. Libellen sah ich letzten Sommer keine einzige mehr.

Enweder hatt man Hirten oder Zäune

All das ist bedrückend und vielleicht unumkehrbar. Aber natürlich haben sich auf den Alpen auch ganz andere, weniger dramatische Dinge gewandelt. Eine Auswahl, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Kein Bauer wird sich heute mehr gegen eine sinnvolle Zäunung sträuben. Damals hiess es manchmal noch, entweder hat man Hirten oder man hat Zäune – beides braucht es nicht.

Viele der Herden sind heutzutage hornlos. Ich erinnere mich, dass wir damals die allererste hornlose Kuh «Mutsch» nannten, obwohl sie doch eigentlich Britta hiess. Die Arbeit mit den Hornkühen war gefährlicher. Nachbarschaftshilfe war einst in den abgelegenen Tälern überlebenswichtig. Das war auch vor 40 Jahren noch spürbar. Heute ist es damit etwas schwieriger geworden. Dafür ist im Notfall schnell der Heli da.

Der Duft der ganzen Alpenwelt

Die Abkalbungen hoch oben und fern von allem sind vorbei. Das mag den Hirten nervlich etwas entlasten. Für Ausgleich dazu sorgt jetzt allerdings die Anwesenheit des Wolfs. Dass manche Hirten diese Anwesenheit begrüssen, nachdem der Wolf doch über 10 000 Jahre lang Feind jeder Hirtenkultur war, ist jedenfalls bemerkenswert.

Die Bauern, die mich damals an meinem ersten Tag begrüssten, sind alt geworden, einige sind gestorben. Ihre Söhne haben die Höfe übernommen und bald rückt die nächste Generation nach. Geblieben sind die Berge, die Sonne, Wind und Wetter. Geblieben ist auch die Sorge, wenn Tiere krank sind, verunfallen oder gar vermisst werden. Die Freude, wenn alle munter sind, weiden und gedeihen. Der Duft des Grases, der ganzenAlpenwelt. Und ja, auch und immer noch jener der Freiheit.