Thema der Woche
In der Woche vom 11. August publiziert die BauernZeitung Informationen und Geschichten rund um das Thema Pflege von Angehörigen.

Angehörige zu Hause zu pflegen, hat gerade in der Landwirtschaft eine lange Tradition. Das ist in Deutschland nicht anders als in der Schweiz. Die Agronomin und Sozialwissenschaftlerin Dr. Christine Niens von der Georg August Universität im deutschen Göttingen hat sich eingehend mit dem Thema befasst. An der internationalen Tagung «Frauen in der Landwirtschaft», die diesen Frühling in Bozen, Südtirol stattfand, hielt sie ein Referat mit dem Titel «Zwischen Feldarbeit und Fürsorge: Offen und verdeckt geäusserte Belastungen durch freiwillige und unfreiwillige Pflege Angehöriger im häuslichen Umfeld.»

Frau Niens, wie ist die Situation in Deutschland?

Christine Niens: Seit mehr als zehn Jahren beschäftige ich mich mit der «ambulante Pflege im ländlichen Raum». Die ambulante Pflegequote auf landwirtschaftlichen Betrieben ist sehr hoch. Der Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege ist im deutschen Gesetz auch im elften Sozialgesetzbuch verankert. Das bedeutet, Pflegebedürftige sollen im häuslichen Umfeld möglichst von Angehörigen, Nachbarn oder Bekannten versorgt werden und nicht in Pflegeheimen. In der Vergangenheit wurde bei der Übergabe von landwirtschaftlichen Betrieben oft noch eine «uneingeschränkte Pflegeklause» vereinbart.

Was ist das?

Das heisst, die junge Generation ist vertraglich verpflichtet, die Pflege der abtretenden Generation komplett zu organisieren und zu finanzieren. Mittlerweile werden uneingeschränkte Pflegeklauseln nur noch selten in die Übergabeverträge aufgenommen, aber die soziale Verpflichtung, die ältere Generation zu Hause zu pflegen, ist nach wie vor sehr gross. Die Unterbringung in einem Pflegeheim stellt eher eine Ausnahme dar.

Wer pflegt vor allem Angehörige?

Der überwiegende Teil der Pflegepersonen sind Frauen, sie sind allerdings oft nicht beteiligt an der Ausgestaltung des Hofübergabevertrags und werden letztlich vor vollendete Tatsachen gestellt. Viele von ihnen sind im Alter zwischen 50 und 65 Jahren. Es gibt aber auch jüngere Frauen, die pflegebedürftige Kinder betreuen. Manchmal werden die Frauen von ihren Männern unterstützt, einige Männer übernehmen auch die Pflege selbst. Viele der Frauen machen diese Arbeit freiwillig, einige aber nur auf Druck der Familie oder weil sie ihren Beruf zugunsten des Hofs aufgegeben haben und das Pflegegeld, das die Frauen von den Pflegebedürftigen beziehungsweise der Pflegekasse erhalten, eine wichtige Einkommensquelle darstellt.[IMG 2]

Sie sprachen in Bozen über die Belastungen, die diese Aufgaben mit sich bringen ...

Damit kein Missverständnis aufkommt: Nicht für alle ist die Pflege eine Belastung. Es gibt Frauen, die dies als Bereicherung empfinden. Sie möchten mit den Angehörigen Zeit verbringen und/oder ihnen etwas zurückgeben. Doch es gibt Frauen, die dadurch stark belastet sind, sich dies aber kaum eingestehen. Entweder, weil der Druck durch die Familie zu gross ist, oder weil sie einen entsprechenden Anspruch an sich selber haben.

Welche Auswirkungen haben diese Belastungen?

Care-Arbeit Bezahlte Angehörigenpflege: «Das Risiko einer Überforderung steigt» Montag, 11. August 2025 Wir haben für unsere Studien, die wir im Jahr 2014 begonnen haben, mit Frauen und Männern, die seit mindestens sechs Monaten Angehörige pflegen, zwei bis fünfstündige Interviews geführt. Sie sprachen von psychischen, physischen und finanziellen Auswirkungen. Es gab Frauen, die nur in einem Nebensatz ausdrücken konnten, dass sie sich stark überlastet fühlten, zum Beispiel weil sie soziale Sanktionen fürchten, ihre Familie nicht enttäuschen wollen, oder ein Eingestehen von pflegebedingten Belastungen in Konflikt zu den engen Loyalitätsbeziehungen zur den Pflegebedürftigen oder ihrem Selbstanspruch steht. Es ist zudem schwer, wenn man als Pflegeperson miterleben muss, dass es einem geliebten Menschen, den man umsorgt, ständig schlechter geht. Auch zeitlich ist man stark eingebunden, manche verlieren ihr soziales Umfeld und müssen Hobbys aufgeben.»

Welches sind die körperlichen Belastungen?

Pflege ist physisch anstrengend. Viele der Pflegenden müssen 24 Stunden auf Abruf sein und nachts oft mehrmals aufstehen.

Und welches sind die finanziellen Auswirkungen?

Wird etwa ein professioneller Pflegedienst dazu gezogen, muss privat etwas dazu gezahlt werden, denn bei der sozialen Pflegeversicherung handelt es sich um ein Teilkaskosystem. Dazu kommen teils teure Hilfsmittel. Manche Frauen haben ihre Berufstätigkeit eingeschränkt oder ganz aufgegeben, auch hierdurch entstehen finanzielle Verluste.

Was verstehen Sie unter «unfreiwilliger» Pflege?

Da sind zum einen die Pflege-Verträge der Hofnachfolger. Zum andern hat die innerfamiliäre Pflege eine lange Tradition. Es wird an Werten festgehalten. Die Familie macht Druck im Sinne von «es sei eine Selbstverständlichkeit …» Das stimmt nicht immer mit den Vorstellungen der Frauen überein, vor allem wenn sie nicht aus der Landwirtschaft kommen. Noch schwieriger wird es, wenn man sich mit den Angehörigen, die man pflegen sollte, nicht versteht. Einige der Frauen wollen ihre Angehörigen nicht pflegen, aber auch keine schwerwiegenden Konflikte mit ihrer Familie oder ihrem Mann riskieren. Sie stecken in einem Dilemma.

Wie wirkt sich die Pflege auf die übrige Familie und den Hof aus?

Sie wirkt sich auf die innerfamiliären Beziehungen und auf das Machtgefüge aus, etwa, wenn die ältere Generation immer pflegebedürftiger wird und ihr Einfluss auf dem Betrieb schwindet. Dann müssen sich die Verhältnisse neu ordnen und jeder muss lernen, sich in der neuen Rolle zurechtzufinden. Dies kann zu Konflikten führen und erschwert die Arbeit. Leben dann noch alle in einem Haushalt, hat man keine Rückzugsmöglichkeiten.

Welche Form von Unterstützung brauchen Menschen in der Landwirtschaft, die Angehörige pflegen?

Die Sozialversicherung für die Landwirtschaft bietet Pflegenden unter anderem eine Erholungswoche an, die sehr geschätzt wird. Ein Teil der Teilnehmenden vernetzt sich längerfristig. Darüber hinaus gibt es weitere Angebote zur Entlastung, auch online. Die Pflegenden dürfen und müssen sich ausserdem trauen, im Alltag von der übrigen Familie Unterstützung einzufordern sowie regelmässige Zeitfenster, in denen sie nicht eingebunden sind.