Schweiz Irgendwie wirken sie exotisch. Wie überlange Brombeeren, die als Laune der Natur an Bäumen wachsen. Manche sind sogar weiss. Aber tatsächlich gibt es Maulbeerbäume schon lange in der Schweiz. Mehr noch, sie haben die helvetische Kultur deutlich geprägt.

Geschmuggelte Samen

Die Geschichte der Maulbeere in Europa und der Schweiz liest sich wie ein Abenteuerroman. Ursprünglich in Asien beheimatet, verwendeten schon die Griechen die roten oder schwarzen Früchte von Morus nigra, dem Schwarzen Maulbeerbaum. Sie verliehen mit dem Beerensaft ihrem Wein eine ansprechende Farbe. Für die Schweiz bedeutender ist allerdings die weisse Version dieser Pflanze, Morus alba. Sie kam später nach Europa, geschmuggelt in den Pilgerstäben wandernder christlicher Mönche. Ihr Ziel: die Seidenproduktion. Die Raupe des Seidenspinners produziert nämlich nur dann seidene Kokons, wenn sie die Blätter des Weissen Maulbeerbaums verspeist hat. Die Eier dieses Nachtfalters wurden ebenfalls eingeschmuggelt. Vom südlichen Europa her kam dann das Wissen um die Herstellung der Seide ins Tessin und auch über die Alpen. In der Schweiz entwickelte sich eine florierende Seidenindustrie, was die helvetische Wirtschaft auf den Kopf stellte; die Herstellung des edlen Stoffes brachte der Schweiz drei Wirtschaftsbereiche, für die sie heute weltbekannt ist.

Ein Bankenstandort entsteht

Mehr als 10 000 Maulbeerbäume pro Seidengut wurden gepflanzt, um das wertvolle Tuch in ausreichender Menge herzustellen. Das schuf Arbeitsplätze, kurbelte die Maschinen- und die chemische Industrie an und machte Banken nötig. Um Plantagen in dieser Grösse anzulegen, brauchte es schliesslich Investitionen und Kredite. So gründet der Bankenplatz Schweiz sicher zumindest zu einem Teil auf einer Raupe.

Schweizer Seide

Zu Hochzeiten der Seidenproduktion in der Schweiz gab es im Tessin etwa 31 Spinnereien. Dieser Betriebszweig war eine wichtige Einkommensquelle für die Bauern und für Frauen eine der ersten bezahlten Arbeitsmöglichkeiten. Bis Ende des 19. Jahrhunderts blieb Seide aus der Schweiz bedeutend. Die Kriege und Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts trafen die Seidenindustrie aber schwer. Als Luxusgut wurde der Stoff primär ins Ausland exportiert. In Folge der Wirrungen und Krisen aber brach die Nachfrage ein.

Ein Wiederbeginn

Heute gibt es mit der Swiss Silk eine Vereinigung der Schweizer Seidenproduzenten. Diese wurde 2009 gegründet, nachdem zwei Bauern auf einer Reise nach Südfrankreich von der einstigen Bedeutung der Seide in der Schweiz erfahren hatten (siehe Kasten unten).

Dank dieser seidenbegeisterten Bauern gibt es heute Krawatten, Kleidungsstücke und auch Möbel-Pfister-Vorhänge aus inländischer Seide können erworben werden.

Pro Specie Rara ist aktiv

Die Schweizerische Stiftung für die kulturhistorische und genetische Vielfalt von Pflanzen und Tieren Pro Specie Rara macht sich seit 2012 für Maulbeeren in der Schweiz stark. Mit einem Aufruf an die Bevölkerung suchte sie nach alten Bäumen dieser Art. Über 600 Maulbeerbäume wurden gefunden, mit Schwerpunkten im Tessin und in heutigen Weinbauregionen. Das hat einerseits damit zu tun, dass Maulbeeren wärmeliebend sind. Andererseits kam die Seiden-produktion aus Italien und traf deshalb zuerst in der südlichen Schweiz ein.

Dank dieses Projekts können Morus alba und Morus nigra heute aus Pflanzen vermehrt werden, die sich an die Standortbedingungen hierzulande angepasst haben. Dadurch sind die Jungpflanzen robuster und gedeihen besser. Zudem ist dank der vielen inventarisierten Bäume im ganzen Land die genetische Vielfalt gesichert. Es können auf diese Weise nämlich unterschiedliche Pflanzen aufgepfropft werden, statt immer auf einige wenige Individuen zurückgreifen zu müssen.

Ein altes Superfood

Wenn man ihre gesundheits-fördernde Wirkung beschreibt, könnte man denken, die Maulbeere reihe sich ein in die Serie von sogenannten «Superfoods». Aber anders als zum Beispiel Aronia sind Maulbeeren süss und aromatisch. Die schwarzen haben eine stark färbende Wirkung. Die beiden Unterarten Morus alba und Morus nigra unterscheiden sich aber in mehr als nur der Farbe ihrer Früchte. So sind die Blätter der Schwarzen Maulbeere rau behaart und ledrig, die Beeren kaum gestielt. Der Baum wächst langsam und bevorzugt nährstoffreiche Böden. Pflanzen mit weissen Früchten hingegen tragen weiche, unbehaarte Blätter, deutlich gestielte Beeren und sind wüchsig, auch auf kargem Untergrund. Zwar mögen beide Varianten Wärme und Licht, Morus nigra allerdings noch etwas mehr als sein weisses Pendant. Daher wächst die schwarzbeerige Pflanze in der Schweiz gerne in Weinbauregionen. Maulbeerbäume können zehn bis 15 Meter hoch und 200 bis 300 Jahre alt werden.

Unterschiede im Geschmack

Die Beeren sind süss und die schwarzen auch aromatisch. Manch einer mag sie getrocknet kennen. In dieser Form bereichern Maulbeeren das typische Schweizer Müesli. Sie sollen bei Leberbeschwerden helfen, Fieber senken und das Blut reinigen. Das Laub fressen nicht nur Seidenspinnerraupen, sondern auch Vieh. Es wurde aber auch gegen giftige Tierbisse aufgelegt. Die scharfe und bittere Wurzel wurde als Abführmittel gegen Würmer eingesetzt, das Holz fand Verwendung in Möbelbau und Kleinkunst. Oder aber es landete ganz profan als Brennmaterial im Ofen. So wurde in alter Zeit der Maulbeerbaum von der Wurzel bis zu Blatt und Beere genutzt. Heute bekannt ist etwa noch ein Hustensirup daraus.

Eigene Maulbeeren

Die Baumschule Roth in Dorf ZH verkauft aufgepfropfte Nachkommen von verschiedenen Maulbeerbäumen aus dem Inventar der Pro Specie Rara. Insgesamt stehen fünf schwarze und elf weisse mit ihren jeweils individuellen Eigenschaften zur Auswahl. Die Bäume vertragen keine Staunässe und sind gerade als junge Pflänzchen kälteempfindlich. Maximal zwei Jahre können Maulbeerbäume im Topf gehalten werden, wobei der Wurzelstock im Winter isoliert werden sollte. Wer keinen grossen Baum will, kann ihn entsprechend zurückschneiden.

Auf diese Weise kann man sich also ein Stück Schweizer Kulturgeschichte in den heimischen Garten holen.