Seit zwei Jahren lebt ein junges Paar mit zwei schulpflichtigen Kindern neben uns. In dieser Zeit haben wir viel gelernt über kindliche Fantasie(en), unschuldige Aussagen und verspielte Ansichten. Aber auch vorwurfsvolle Hinweise blieben nicht aus. Da wir keine Kinder und Grosskinder haben, eröffneten sich uns Horizonte. Anfangs waren wir mitunter geschockt über Bemerkungen. Zum Beispiel, als ich dem Buben etwas erklärte (erklären wollte) im Zusammenhang mit einem Vortrag, den er halten sollte. Seine Mutter ermahnte ihn mehrmals, an seiner Rede zu arbeiten, statt draussen herumzurennen. Ich unterstützte sie: «Schau, Adrian, wenn du deine Aufgaben fertig machst, musst du nachher nicht mehr dran denken.» Der Bub antwortete, es sei schwierig, den Anfang für den Text zu finden. Oh, wie konnte ich ihm das nachfühlen!

Heute ist alles anders, meint der Nachbarjunge

Diesem Problem begegne ich dauernd. Also holte ich zu einer gescheiten Anleitung aus. Ich kam nicht weit. Nach ein paar Sätzen stieg der Achtjährige auf das Mäuerchen, auf dem ich sass, schaute altklug auf mich herunter und meinte selbstsicher: «Weisch, Benildis, das verstehst du nicht; es ist heute nicht mehr so.» Aha, der Kleine weiss offensichtlich, wie es früher war. Ich hingegen, die alte Tante, habe von nichts mehr eine Ahnung. Anfangs waren die Belehrungen für uns nicht immer einfach zu ertragen. Wir mussten lernen, damit umzugehen, nicht zu widersprechen oder uns zu wehren.

Graue Haare bedeuten alt sein

Amelie will wissen, ob Roland mein Vater sei. «Wie kommst du denn darauf?», frage ich entsetzt. «Weil er graue Haare hat und du nicht.» Ich erkläre ihr, dass meine Haare getönt seien. Hätte ich doch einfach wie mein (und Claudio Zuccolinis) Vater gesagt: «Daarum!» Doch das geht heute nicht mehr, wir müssen uns durch Dutzende Fragen quälen: «Wie war deine Haarfarbe als Mädchen, wie lange hält die Farbe, welche Farben hattest du, warum willst du keine weissen Haare, färben Tiere ihre Haare auch?»

Das ist einfach so. Punkt! 

Das Thema «gefärbtes» Haar war angenehm im Vergleich zu dem von Adrian gewählten, nämlich Zahnprothesen. Er hatte ein paarmal prüfend in meinen offenen Mund geschaut. «Was hast du da Glitzerndes zwischen den Zähnen?», wollte er wissen. Wieder dachte ich an früher, als Kindern kurz und bündig gesagt worden wäre: «Das ist einfach so. Punkt!» Wie soll ich anfangen, überlegte ich. «Weisst du, wenn wir älter werden, fallen uns die Zähne aus», erläuterte ich. «Der Zahnarzt ersetzt diese durch künstliche Zähne, die mit Metallklammern befestigt oder zusammengehalten werden.» Muss für Kinder hoch spannend sein, denn die Fragerei wollte kein Ende nehmen.

Zum Glück kam mein Mann mit meinem klingelnden Smartphone daher. Der Anruf erlöste mich. Nun gingen die Kinder auf ihn los: «Hast du auch Prolesen? Hast du mehr oder weniger als Benildis, warum wachsen eure Zähne nicht nach wie unsere, haben Tiere auch falsche Zähne?» Bei anderer Gelegenheit fragt mich der Knabe, ob wir verheiratet seien. «Ja, das sind wir, seit 41 Jahren», antworte ich. «Warum fragst du?» Er schaut mich und meinen Mann prüfend an und meint: «Warum sagst du denn immer Schatzli zu ihm?»