«Ich bin am rächte Ort», meint Silvia Linder, während die Sonne auf ihr Gesicht scheint und eine Brise mit ihrem ergrauten Haar spielt. Man kann der Bergbäuerin nicht vorwerfen, es nicht besser wissen zu können: Sie ist nahe beim Flughafen Zürich aufgewachsen und weit gereist, da ihre Eltern bei der Swissair angestellt waren. Geblieben ist der Zürcher Dialekt und ein guter Draht zu Touristen, mit denen sie fliessend Englisch spricht.

Organisieren gehört dazu

Es sei schade, keinen Bauern in der Bekanntschaft zu haben, sagte Silvia Linder als Kind zu ihren Eltern. Als Jugendliche ging sie daher in den Landdienst, zuerst ins Emmental und dann nach Zuoz GR. «Dort wurde alles Heu von Hand zusammengerecht – das liebe ich noch heute», sagt die Bäuerin. Auch organisieren tut sie gerne. Etwas, das in Mürren BE auf über 1650 m ü. M. unumgänglich ist: Man muss sich zum Beispiel nach den Fahrzeiten der Seilbahnen richten.

Und trotzdem komme es oft anders als geplant, bemerkt Silvia Linder lächelnd. «Mein ganzes Leben ist so.» Die Bäuerin geniesst eine gewisse Ungewissheit. Drei Wochen im Voraus eine volle Agenda – «Uh nei, das wäre mir zu langweilig», winkt sie ab. Auch nach ihrer Pensionierung ist die 66-Jährige allerdings alles andere als ungebucht: Sie hilft auf dem Betrieb, den ihr ältester Sohn übernommen hat, hütet dessen zwei Söhne (3 und 5), macht Besorgungen für ihren betagten Vater und vermietet eine Ferienwohnung. Letzteres ist ein wichtiges Zusatzeinkommen für sie und ihren Mann, denn beide haben keine Pensionskasse und müssen mit der AHV durchkommen.

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«Das lernst du hier»

Mit ihrer Liebe zur Landwirtschaft lag es eigentlich nahe, dass Silvia Linder einen Bauern heiraten würde. «Ich kannte den Beruf meines Mannes nicht im Voraus», stellt sie aber klar. Die beiden trafen sich per Zufall bei einer Betriebsfeier der Schilthornbahn, und er brachte ihr danach jeden Tag frische Milch. Sie half beim Heuen und wurde zur Bäuerin, allerdings ohne die Bäuerinnenschule besucht zu haben. «Als ich noch im Tal lebte, hiess es, ich solle zuerst etwas anderes lernen», erinnert sich Linder, die eine KV-Lehre abgeschlossen hat. «Und hier oben sagte man: Was du hier wissen musst, lernst du hier.»

Als klar war, dass einer ihrer drei Söhne den Betrieb übernehmen würde, fällten Linders den Entscheid für eine Investition und bauten im Sömmerungsgebiet einen Laufstall mit Mistschieber, Heukran und Heubelüftung. Aus den Milchkühen wurden schrittweise Mutterkühe. «Wir bauen einmal im Leben, haben wir uns gesagt», erinnert sich Silvia Linder. Der neue Stall, manchmal Helikopterflüge für den Heutransport und moderne Maschinen wie der Heuschieber «Twister» für Steilhänge erleichtern die Arbeit. Nach wie vor gibt es aber kilometerweise Zäune zu stellen. Linders sind die letzten Bauern in Mürren und konnten die Allmend pachten. Das heisst aber auch, einen ganzen Hügel zu umzäunen.

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Freiwillig im Einsatz

Bei alldem erstaunt es, dass Silvia Linder seit ihrer Pensionierung als Freiwillige beim Landschaftstheater Ballenberg mitwirkt. «Endlich kann ich etwas nur für mich machen und muss nicht um 16 Uhr im Stall sein», erklärt sie ihre Motivation. Der Ballenberg mit seinen historischen Gebäuden habe ihr immer gefallen. Man erfahre, wie früher in der Schweizer Landwirtschaft gelebt und gearbeitet worden sei.

Zu wenig weit gedacht

Zu romantisierend findet Silvia Linder den Ballenberg nicht, wenn sich die Besucher auch zu wenig Gedanken machen würden: «Sie sehen die Häuser und finden sie schön. Aber dass es im Winter kalt darin ist, es keinen Strom und fliessendes Wasser gibt, ist ihnen nicht bewusst.»

Ihr selbst ist das einfache Alpleben wohlbekannt. Zwölf Sommer hat sie allein auf einer nur zu Fuss erreichbaren Alp verbracht und war verantwortlich für 55 bis 70 Stück Rindvieh. Für das Zäunen und das Rüsten von Brennholz bekam sie Unterstützung von ihrem Mann – und er hielt ihr den Rücken frei. Das sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Dank einem «Ein-Tisch-Beizli» mit Käse und Brot kam Linder als Älplerin mit sehr verschiedenen Menschen ins Gespräch. «Sie geben einen winzigen Einblick in ihr Leben, das fasziniert mich.» Da Linder aber gerne allein ist, kam es ihr sehr entgegen, dass Besucher jeweils zeitig den Rückweg ins Tal antreten mussten. Noch heute ist eine Hütte am Berg hoch über dem Dorf für die Bäuerin ein wichtiger Rückzugsort.

Helferin und Chauffeuse

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Szene aus dem Stück «Wyberhaagge» mit Beat Schlatter.Freilichtmuseum BallenbergDas Landschaftstheater Ballenberg spielt die Schwinger-Komödie «Wyberhaagge» mit Beat SchlatterDienstag, 20. Juni 2023 Auf dem Ballenberg spielt Silvia Linder eine ganz andere Rolle als in Mürren. Einerseits zwar auch dort als Helferin beim Aufbau, andererseits im aktuellen Stück «Wyberhaagge» als Taxichauffeuse für den Hauptdarsteller. Es war geplant gewesen, dass sie sich um die Tiere kümmert – aber wie so oft in ihrem Leben kam es anders, und so steht respektive fährt die Bäuerin selbst im Rampenlicht. Abseits davon sei das Team des Ballenbergs wie eine Familie. Die Entschädigung für die Anreise und Rücksicht auf den Fahrplan der Seilbahn bei der Einsatzplanung ermöglichen es Linder, mitzuwirken und damit auch etwas für sich zu tun.

Ihre Mutter habe ihr das Leben als Bergbäuerin nicht zugetraut, ihr eine starke Reisesehnsucht prophezeit. Bewahrheitet hat sich das nicht. Zwar ist Silvia Linder noch immer neugierig und würde gerne das nähere Ausland erkunden. Aber die Bäuerin fühlt sich in den Bergen wohl und sieht noch immer die Schönheit um sich herum – eine Blume, eine farbenfrohe Wiese oder ein Feuerscheit mit einer besonderen Maserung. Daraus schnitzt sie dann einen Löffel, statt es zu verfeuern – ungeplant, aber passend.

Tickets gewinnen
Vom 6. Juli bis 19. August führt das Landschaftstheater Ballenberg die Schwinger-Kommödie «Wyberhaagge» auf. Die Bühne betreten neben Hauptdarsteller Beat Schlatter auch echte Berner Schwingerkönige und die Schwingerin Rahel von Känel. Das Fachmagazin «die grüne» verlost 2×2Tickets. jsc
Mitmachen unter: www.diegruene.ch/wyberhaagge