Der Gemeindepräsident sei Chef der Exekutive und leite die Verwaltung. Dieser Beschrieb passt zwar auch zu Karl Betschart, dem Gemeindepräsidenten des Schwyzer Bergdorfes Riemenstalden. Doch seine Aufgaben für die Gemeinde gehen noch bedeutend weiter. Aktuell ist er morgens um halb fünf bereits mit dem Salzwagen auf der Bergstrasse von Riemenstalden nach Sisikon am Urnersee unterwegs. Bei Schneefall steht er mit ganz grossem Gefährt im Einsatz. Dann fräst er mit seinem 230 PS starken Traktor die Strasse frei.

Riemenstalden, das 85-Seelen-Dorf

Seit Anfang Jahr steht Karl Betschart der bevölkerungsmässig kleinsten Gemeinde des Kantons Schwyz vor. 85 Personen leben noch im Bergdorf Riemenstalden. 58 davon sind stimmberechtigt, 24 haben an der Gemeindepräsidentenwahl teilgenommen. Ein Gegenkandidat sei keiner auszumachen gewesen, so Karl Betschart mit einem Schmunzeln. Dass sich geeignete Personen politisch für das Dorf einsetzten, sei für eine kleine Gemeinde existenziell. Er selbst ist bereits seit dem Jahr 2000 Mitglied im Gemeinderat, mit einem kurzen Unterbruch von zwei Jahren. Auch wenn verschiedene Meinungen vorherrschen, müsse der Gemeinderat ein gutes Team sein. Toleranz sei in einer kleinen Gemeinde besonders wichtig. Denn ob politisch oder privat, man sei immer wieder auf gegenseitige Unterstützung angewiesen.

Die viele Baustellen des Gemeindepräsidenten

Der Alltag von Karl Betschart ist vielseitig. Sein Gemeindepräsidentenamt entspreche ungefähr einem 10-Prozent-Pensum. Zusammen mit seiner Frau Helen führt er dazu einen 21 Hektaren grossen Hof mit rund 90 Mutterschafen und um die 120 Jungtieren. Neben dem Winterdienst arbeitet er, wenn es die Zeit erlaubt, noch aushilfsweise in einer Baumaschinenwerkstatt. Auch Bäuerin Helen Betschart arbeitet ausserbetrieblich in einem 30-Prozent-Pensum als Coiffeuse.

[IMG 2]

Seit 30 Jahre am Bauen

Karl Betschart musste sehr früh Verantwortung übernehmen. Als er 11 Jahre alt war, verstarb sein Vater. Seine Mutter, seine Schwestern und er führten den Betrieb, dessen Parzellen mehrheitlich sehr steil sind, mit Unterstützung von Verwandten und Nachbarn weiter. Als Karl Betschart 23 Jahre alt war, übernahmen er und seine Frau Helen den Hof. Seither ist auf dem Heimet Obergadmen kein Stein auf dem anderen geblieben: Die Hofzufahrt wurde modernisiert, ein Haus neu gebaut und der Stallneubau realisiert. «Seit meinem 16. Altersjahr bin ich eigentlich immer am Bauen», erinnert sich Karl Betschart. Von 2007 bis 2020 führte er sogar ein eigenes Tiefbauunternehmen mit vier Angestellten. Das war aber nur dank der grossen Unterstützung seiner Familie möglich. Während acht Jahren führte er den Hof mit Hans Inderbitzin, dem Lebenspartner seiner Mutter, in einer Betriebsgemeinschaft. Später war Hans Inderbitzin bis zu seiner Pensionierung auf dem Betrieb angestellt.

«Man ist auf Unterstützung angewiesen.»

Karl Betschart, Gemeindepräsident und Landwirt aus Riemenstalden.

2020 entschieden sich Helen und Karl Betschart, das Bauunternehmen aufzugeben. «Dass alle unsere Angestellten eine neue Arbeitsstelle in Aussicht hatten, erleichterte uns den Entscheid», erklärt Helen Betschart. Langweilig wird es den beiden aber auch heute nicht. Seit mehreren Jahren haben sie eine neue Leidenschaft: die Ausbildung von Herdenschutzhunden. Zusammen besuchten sie Kurse und legten die Prüfung ab, die sie zur Ausbildung und Zucht von Herdenschutzhunden berechtigt. Vier Maremmen-Abruzzen-Herdenschutzhunde leben momentan bei ihren Schafen. Die Ausbildung von diesen benötige viel Zeit und Disziplin. «Wir gehen fast jeden Morgen noch vor dem Frühstück zusammen mit ihnen an der Leine laufen», so Helen Betschart. Ein Ritual, das die beiden nicht missen möchten.

Konflikte mit Touristen sind vorprogrammiert

Die zwei neu ausgebildeten Herdenschutzhunde werden bald auf einem anderen Betrieb platziert. Die zwei älteren Tiere gehen zusammen mit den eigenen Schafen im Gebiet Alplen zuhinterst im Muotatal z Alp. Seit zwei Jahren verbringen dort alle Tiere den Sommer.

Betriebsspiegel Obergadmen
Betriebsleiter: Helen und Karl Betschart
Ort: Riemenstalden, 1000 m ü. M.
Fläche: 21 ha Naturwiesen von 850 bis 1300 m ü. M.
Viehbestand: 90 Mutterschafe, total 120 Jungtiere, vier Herdenschutzhunde
Nebenerwerb: Helen Betschart als Coiffeuse, Karl Betschart in Baumaschinenfirma

«Das wichtigste Kriterium bei meiner damaligen Suche nach einer geeigneten Schafalp war, dass sich dort keine offiziellen Wanderwege befinden», betont Karl Betschart. Er ist überzeugt, dass der Druck durch Grossraubtiere auch im Kanton Schwyz stark zunehmen werde. Und somit seien auch Konflikte zwischen Schutzhunden und Outdoorsportlern vorprogrammiert. Auch Riemenstalden selber ist ein beliebtes Bergsportgebiet. Insbesondere das Lidernengebiet ist bei Wanderern und Skitourengängern bekannt. Erschlossen ist dieses Naturparadies mit dem Spilauersee durch eine Bergbahn.

Gute Bevölkerungsstruktur im Bergdorf

«Riemenstalden ist aktuell in der glücklichen Lage, mit seiner langjährigen Gemeindeschreiberin über eine sehr kompetente Person zu verfügen, welche die Geschäfte hervorragendvorbereitet», betont der 47-jährige Bergbauer. Bei grösseren Projekten wird oftmals mit anderen Gemeinden oder mit anderen Partnern zusammengearbeitet. Überlebenswichtige Infrastrukturen wie Strassen und Schutzbauten zu unterhalten, sei für seine kleine Gemeinde herausfordernd. Denn trotz des gut ausgebauten Finanzausgleichs im Kanton Schwyz sei die Finanzierung von grösseren Projekten immer anspruchsvoll. Aktuell verfüge Riemenstalden über eine gesunde Bevölkerungsstruktur. Die dorfeigene Gesamtschule sei gut besucht und somit auch nicht gefährdet. Von ihren eigenen vier Kindern geht nur noch der 12-jährige Manuel in die Dorfschule. Eliane (16) startete die Ausbildung zur Coiffeuse, Tino (17) lernt Forstwart und die 20-jährige Jana ist ausgebildete Detailhandelsangestellte.

Auch die Kinder sind mit dem Dorf verbunden

Obwohl somit bald alle Kinder von Helen und Karl Betschart ausserhalb des Dorfes tätig sind, sind sie mit Riemenstalden und dem Heimet Obergadmen immer noch stark verbunden.

Riemenstalden
Die Gemeinde Riemenstalden liegt in einem abgeschlossenen Bergtal auf der Wasserscheide zwischen dem Muotathal und dem Urnersee. Der Dorfkern befindet sich hoch über dem Vierwaldstättersee auf 1030 m ü. M. und ist über eine Zufahrtsstrasse von Sisikon (Kanton Uri) her erreichbar. Das Gemeindegebiet erstreckt sich über eine Fläche von 11,2 km². Somit ist Riemenstalden zwar nicht flächenmässig die kleinste Schwyzer Gemeinde, wohl aber hinsichtlich seiner Einwohnerzahl. 89 Einwohnerinnen und Einwohner (Stand: Ende 2021) zählt die Gemeinde. Bezüglich des Anteils von in der Landwirtschaft Beschäftigten steht Riemenstalden weitaus an der Spitze aller Schwyzer Gemeinden. Acht Bauernbetriebe zählt das Bergdorf, der primäre Sektor hat somit einen rekordverdächtigen Anteil von 80 Prozent. Die beiden einzigen nichtbäuerlichen Gewerbe sind das bekannte Restaurant Kaiserstock und die Luftseilbahn Chäppeliberg-Spilau. Einen Einkaufsladen gibt es nicht. Die exponierte Lage unterhalbe der steilen Flanken des Fronalpstocks führten dazu, dass Riemenstalden im Laufe der Geschichte immer wieder den Naturgewalten ausgesetzt war, so unter anderem in den Lawinenwintern 1952, 1954 und 1999.