Ein grosses Thema wurde am Schweizer Ernährungssystemgipfel in Bern mit grosser Kelle angerührt und von illustren Persönlichkeiten begleitet. Die Frage des Tages ist zugleich jene der Zukunft: Wie gelingt der Wandel der Landwirtschaft, von Handel und Konsum zu einer Form, die langfristig bestehen kann? Es herrschte erstaunlich grosse Einigkeit – bis auf einen entscheidenden Punkt.

Die informierte Bevölkerung stimmt zu

Repräsentatives GremiumDer Bürger(innen)rat präsentiert Resultate – und zeigt sich in AufbruchstimmungMontag, 7. November 2022 Die Ergebnisse des Bürger(innen)rats (über 100 Empfehlungen an die Politik) und ein Leitfaden aus der Feder von 42 Forschenden (rund 70 Seiten mit konkreten Zielen und Massnahmen) bildeten die Diskussionsgrundlage für den Gipfel. «Der Leitfaden zeigt den strategischen Rahmen auf für die Empfehlungen und macht sie handhabbar», erläutere Carole Küng, Co-Direktorin des Netzwerks für Nachhaltigkeitslösungen (SDSN), das als Veranstalter auftrat. Zukunftsfähige Massnahmen sind mehrheitsfähig, so das Fazit von Biovision-Geschäftsführer Frank Eyhorn. Seine Organisation gehört zu den Trägern des Bürger(innen)rats. Das beweise der Umstand, dass die Meinung der Bürger(innen) zu dem passe, was die Forschung als Weg in die Zukunft sieht. Die Voraussetzung dürfte die sorgfältige Information der Bevölkerung sein, schliesslich wurden die Mitglieder des Bürger(innen)rats über Monate von Akteuren, Praktikern und Fachleuten in das Thema eingeführt.

Ein Plan, nicht nur Massnahmen

«Natürlich haben wir das Rad nicht komplett neu erfunden», hielt Lukas Fesenfeld fest. Der Forscher von der Uni Bern präsentierte den wissenschaftlichen Leitfaden und antwortete auf die Frage, was man sich denn von Massnahmen verspreche, die in der Politik bereits einmal abgelehnt worden sind. «Der Unterschied ist das schrittweise Vorgehen». Die Autoren des Leitfadens skizzieren mehrere Etappen mit schärfer werdenden Massnahmen, um bis 2030 konkrete Ziele zu erreichen.

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Den ersten Schritt, die Schaffung eines Transformationsfonds, hob Fesenfeld besonders hervor. Er solle losgelöst von der Agrarpolitik diskutiert und somit auch zumindest zu Beginn von ausserhalb des Landwirtschaftsbudgets gespiesen werden. Der Fonds soll den Wandel anstossen, etwa durch eine bessere Information der Bevölkerung zu Ernährungsthemen oder die Finanzierung von Weiterbildungsprogrammen z. B. für die Umstellung von Landwirtschaftsbetrieben.

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Tieferer Konsum heisst nicht 1:1 tiefere Produktion

Nicht umsonst gehören die (derzeit) kontroversesten Massnahmen zur letzten Phase. Sie sollen gut vorbereitet werden, um für die nötige Akzeptanz zur Umsetzung zu sorgen.  Wie nicht anders zu erwarten, sehen die Forschenden eine Änderung des Konsums als unausweichlich an. Die Anpassung der Ernährung ist Ziel Nummer 1:

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Weniger tierische Produkte, also deutlich weniger Fleisch und Milchprodukte, mehr Gemüse und Hülsenfrüchte. Der reduzierte Konsum müsse aber nicht 1:1 eine geringere Produktion bedeuten, obwohl weniger Tiere im Mittelland bzw. Talgebiet bei den Forschenden als sinnvoll gelten. «Die Schweiz hat einen Standortvorteil für die graslandbasierte Tierproduktion», sagt Lukas Fesenfeld. Der Inlandkonsum müsse aus Gründen der Nachhaltigkeit sinken, dafür könnten aber Exporte die nötige im Inland Wertschöpfung erhalten. «Dafür braucht es eine geschickte Handels- und Wirtschaftspolitik als Begleitung», so Fesenfeld. Umstellungsprämien für tiefere Tierbestände sollen ebenfalls dazu beitragen, während man bei den Junglandwirten hinsichtlich der starken Identifikation mit der Tierhaltung ansetzen könnte. Insgesamt scheinen die Autoren bemüht, mit einer sektorenübergreifenden Perspektive zu «fordern und fördern», wie es Lukas Fesenfeld formulierte. Unter den prioritären Zielen sind auch existenzsichernde Einkommen sowie die Reduktion psychosozialer und körperlicher Gesundheitsrisken in der Schweizer Landwirtschaft.

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Die Arbeit des Forschungsgremiums betont die Chancen, die sich durch den Wandel bieten. Es ist die Rede von positiven Kipppunkten, dank denen die Umstellung stark beschleunigt werden könne. «Wenn der Anteil vegetarischer Angebote in der Gemeinschaftsverpflegung um 50 Prozent steigt, kann laut Studien der Konsum vegetarischer Produkte innert Wochen um 80 Prozent zunehmen», gab Lukas Fesenfeld ein Beispiel. «Es ist an der Zeit, dass auch der Handel ins Handeln kommt», ergänzt Frank Eyhorn in einer Stellungnahme. Nachhaltigkeit müsse für die Sortimentsgestaltung eine Grundbedingung sein.

Bis 2030 oder erst 2050?

[IMG 6]Zentral am Ernährungssystemgipfel war die Übergabe des wissenschaftlichen Leitfadens und der Bürger(innen)-Empfehlungen an Bundesrat Guy Parmelin. In seiner Rede betonte Parmelin, wie gut beides zur Strategie nachhaltige Entwicklung des Bundes passe. Nur bei der Dringlichkeit scheint man sich nicht einig, obwohl alle Referierenden ebendiese betonten: Der Bundesrat hat seine Strategie auf 2050 ausgelegt, während das Forschungsgremium 2030 anpeilt und keinen Zweifel daran lässt, dass man sich nicht weitere 20 Jahre Zeit lassen kann. «Die Krise wartet nicht auf das Ende der Diskussion», gab Carole Küng zu bedenken und appellierte an den Landwirtschaftsminister: Seine Rolle sei die eines starken Anführers, denn eine effiziente Ernährungspolitik brauche Engagement. «Auch das Parlament und das Volk müssen schnell und gut reagieren», entgegnete Parmelin, bevor er die Bühne verliess.

«Massnahmen sind zu einseitig und gehen zu weit»

Wie weiter in der Agrarpolitik?Der Bundesrat peilt eine grüne, produktive und vermehrt pflanzliche Landwirtschaft anDonnerstag, 23. Juni 2022 Zwar anerkennt und begrüsst der Schweizer Bauernverband (SBV) in einer Mitteilung, dass das Wissenschaftsgremium «im Prinzip» die ganze Wertschöpfungskette in die Pflicht nehme. Er kritisiert aber scharf, dass sich die zweite Phase fast ausschliesslich auf «äusserst einschränkende, kostentreibende und einschneidende Massnahmen» auf Stufe Bauernbetriebe fokussiere. Als Beispiele nennt der SBV zusätzliche Steuern, Abgaben und Vorschriften, die eingefordert werden. Im Weiteren konzentriere sich die dritte Phase praktisch nur auf die Agrarpolitik und damit die Landwirtschaft. «Von einer fairen Verteilung der Verantwortung für eine nachhaltige Ernährungspolitik auf die ganze Wertschöpfungskette kann so keine Rede sein», findet der SBV. Man sei bereit, einen Teil beizutragen, die nachhaltig produzierten Produkte müssten aber auch Absatz finden und es dürfe nicht das Problem ins Ausland verlagert werden. Nach Meinung des SBV sollte die Diskussion um die Weiterentwicklung der Agrar- und Ernährungspolitik auf Basis des Postulatsberichts des Bundes und unter Federführung der Bundesinstitutionen erfolgen.