Hektisch ist es. Die Kälber wollen nicht so, wie sie sollten, lassen sich kaum von der Weide in den Stall treiben. Die Bäuerin hat in Kürze einen Termin, sie wird ungeduldig, die Anspannung steigt. Die Tiere rennen umher und brechen schliesslich aus dem Zaun, Bauer und Bäuerin rennen, um sie aufzuhalten, beide schimpfen einander laut an, es herrscht Chaos.

Endlich gelingt, es die Kälber in Richtung Stall zu treiben, die Tiere werden ruhiger, Bäuerin und Bauer sind ausser Atem und fragen sich: «Was lief da falsch?»

Schliesslich ist die Situation unter Kontrolle. Die Kälber fressen im Stall neben den Kühen ihr Heu, der Bauer streichelt über den Kopf einer Kuh. Ruhe kehrt ein, doch auch eine Enttäuschung macht sich breit – wo blieb die gegenseitige Wertschätzung? Würde die Zusammenarbeit mit Respekt und Wertschätzung nicht besser gelingen? Die Bäuerin eilt ins Haus, um ihren Termin wahrzunehmen.

Bei sich selbst beginnen

Wahrscheinlich kann jede Frau ähnliche Beispiele aufzählen, wenn es ums Thema Wertschätzung geht. Etwa, wenn die Kinder mit dreckigen Stiefeln über den frisch gewischten Boden laufen. Oder wenn man stundenlang in der Küche stand, um ein gesundes Mittagessen zu kochen, doch am Tisch rümpfen die meisten Anwesenden die Nase. Oder wenn man viele Jahre in einer Firma arbeitete, aber beim Abschieds-Apéro lässt sich der Chef entschuldigen.

Die Grundhaltung macht es aus

Das Thema Wertschätzung interessierte die Bäuerin Ricarda Caderas aus Luven GR schon lange vor ihrer Ausbildung zum Coach und zur Supervisorin. Sie hat festgestellt: Wertschätzung beginnt bei jedem selbst. «Wenn ich mir selbst keine Wertschätzung gebe, ist es nie genug, und ich brauche viel mehr Wertschätzung von aussen.»

Heute kann Ricarda Caderas bei hektischen Situationen besser auf sich achten. «Die Grundhaltung macht es aus», ist sie überzeugt. Wertschätzung sich selbst und anderen gegenüber sei aber ein langer Prozess, der nicht von heute auf morgen stattfinden kann.

Mehr Zeit für sich

Vieles hat sich für sie geändert seit Beginn ihrer Ausbildung. Ricarda Caderas hat sich weiterentwickelt. Immer noch ist sie Bäuerin und arbeitet auf dem Betrieb mit. Die beiden Kinder sind erwachsen. Der Sohn tritt früher oder später in die Fusstapfen ihres Mannes.

Sie hatte wieder mehr Zeit für sich, um die eigenen Themen anzugehen. Sie ist in einer neuen Lebensphase angekommen und ist jetzt wertschätzender sich selbst gegenüber. Zudem hat sie sich mit Coaching Supervision und Teamentwicklung selbstständig gemacht. Gerade ist sie dabei, noch mehr in die Materie einzutauchen, mit einer weiteren Ausbildung in Logosynthese. Mit dieser Methode und kombiniert mit systemischen Aufstellungen unterstützt sie Menschen dabei, Blockaden zu lösen und Potenziale zu entfalten.

«Wertschätzung und Selbstwert liegen nahe beieinander, wie das Wort Wert aufzeigt», erklärt Ricarda Caderas. Wenn man das Muster lebt, «ich bin es nicht wert» oder «ich bin nicht genug», braucht es eine Änderung in der eigenen Haltung zu: «ich bin okay, ich bin genug». «Das darf man sich selbst immer wieder zusprechen.»

Ist man in den sozialen Medien aktiv, scheint es einfach, für eine kurze Zeitspanne sein Selbstwertgefühl zu steigern. Doch daraus kann sich ein gefährlicher Kreislauf entwickeln, der zu einer Abhängigkeit führen kann, etwa wenn man sich seinen Selbstwert nur noch dadurch holen kann, wie viel «Likes» ein gepostetes Bild bringt.

Wie messen?

Doch wie misst man Wertschätzung? Jeder Mensch braucht ein anderes Mass an Wertschätzung. Auch wie man sie sich holt, ist unterschiedlich. Ricarda Caderas hat ihren Platz gefunden. Sie geht in ihrer Arbeit als Coach auf. Wenn sie mit ihren Coachings andere begleiten und unterstützen kann, ist sie glücklich. «Ich fühle mich wertgeschätzt, wenn ich wertschätzend bin», so die Bäuerin.

Aber nicht nur dort findet sie heute Wertschätzung. Ihre Esel und die Schafe, die Natur, draussen zu sein, erdet sie. Etwas vom Schönsten ist für sie, wenn sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern zusammen auf dem Betrieb arbeitet. Wenn Hand in Hand alle miteinander an einem Strang ziehen. «Das ist pures Glück.»

Ricarda Caderas betont, dass Freundschaften sehr wichtig für die Wertschätzung sind. Im Austausch mit Freundinnen wird man wertgeschätzt, indem man einander wirklich zuhört und jede so sein darf, wie sie ist.

Nicht nur leisten

Gerade auf einem Landwirtschaftsbetrieb wird Wertschätzung oft stark mit Leistung definiert: «Wenn ich leiste, bin ich wert.» Vielen wurde diese innere Überzeugung bereits von den Eltern vorgelebt. Wer als Kind erfahren hat, dass man an einem heissen Sommertag nicht ins Schwimmbad gehen darf, sondern stattdessen arbeitet, lebt dieses «Muster» oft auch als Erwachsener. Doch dann ist die Gefahr gross, irgendwann am Limit zu laufen.

Und wie geht Wertschätzung in der Beziehung? Wenn man jemanden so nimmt, wie er ist, ist dies sehr wertschätzend. Schwierig werden Beziehungen, wenn ein Partner sich dem anderen gegenüber minderwertig fühlt. Entspannung bringt eine wohlwollende Grundhaltung: «Du bist okay, wie du bist als Mensch, ich sehe dich, ich respektiere dich und ich habe Interesse an deinem Leben.» Ein wichtiger Satz für Ricarda Caderas.

Hilfe finden
Suchen Sie Hilfe? Der Schweizerische Bäuerinnen- und Landfrauenverband hat auf seiner Website unter dem Navigationspunkt «Hilfe und Unterstützung» Fach­personen aufgelistet, die alle einen landwirtschaftlichen Hintergrund haben. Hilfe­suchende können die passenden Ansprechperson nach Kriterien wie «Region», «Art der Beratung» oder auch «Themenbereich» suchen.
Weitere Informationen: www.landfrauen.ch