Bedürfnisorientierte Erziehung ist in den letzten Jahren ein grosses Thema geworden, aber was ist das überhaupt?
Nina Trepp: Ich finde es wichtig, zu verstehen, dass Bedürfnisorientiert nicht heisst, dass es nur um die Bedürfnisse der Babys oder Kinder geht, sondern um die jedes einzelnen Menschen in der Familie. Bedürfnisorientiert soll ein Erziehungsstil sein – bzw. ich nenne es lieber eine Philosophie –, um miteinander auf Augenhöhe umzugehen. Die Bedürfnisse aller sollen ernst genommen und, wenn möglich, erfüllt werden.
Zur Person
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Nina Trepp (Bachelor in Sozialer Arbeit/Dipl.Körperzentrierte Psychologische Beraterin IKP) berät Eltern, Familien und Paare.
Die verheiratete Mutter (*1981) eines Sohnes (*2014) ist im ländlichen Züribiet aufgewachsen und wohnt in Bern.
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Das Vorurteil lautet oft, dass Kindern dann gar keine Grenzen gesetzt würden.
Das stimmt hinten und vorne nicht. Es braucht Grenzen, aber nicht solche, die von aussen übergestülpt werden im Sinne von: «Man macht das so!» Sondern, es geht darum, zu sagen: «Das ist mein Bedürfnis. Da ist gerade meine Grenze.» Zum Beispiel kann man sagen: «Mir ist es gerade viel zu laut, ich brauche jetzt eine Pause …» Und eben nicht: «Nach 17 Uhr rennt man nicht mehr um den Küchentisch.» Es ist wichtig, von sich zu reden. Zu sagen, was man will, braucht, was einem wichtig ist.
Wessen Bedürfnisse kommen eher zu kurz, die der Eltern oder die der Kinder?
Ich lebe bei meinen Beratungen etwas in einer Blase. Es kommen sehr bewusste Eltern zu mir, die alles gut machen wollen und deshalb zu sehr zurückstecken. Fast immer ist es dann die Mutter, die mit ihren Bedürfnissen zu kurz kommt. Aber wenn ich unterwegs bin, sehe ich sehr viele Kinder, deren Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden. Zum Beispiel, dass sie sich nicht bewegen, rennen, wild sein dürfen. Oder dass sie nicht ernst genommen oder gehört werden. Ein Beispiel: Ein zweijähriges Kind fällt um und weint. Statt es zu trösten, sagt die Mutter: «Das war doch gar nicht so schlimm. Hör auf zu weinen. Tu doch nicht so blöd.» Viele Eltern haben einen autoritären Erziehungsstil erlebt und übernehmen diesen, ohne gross zu überlegen, auch wenn viele verstanden haben, dass körperliche oder psychische Gewalt nicht geht. Es gibt aber auch Eltern, die sich negativ an ihre eigene Kindheit zurückerinnern und es besonders gut machen wollen. Also das Gegenteil von autoritär versuchen. Manche davon rutschen dann ineinen Laissez-faire-Stil ab und nehmen keine Führungsverantwortung gegenüber dem Kind mehr wahr. Das ist auch nicht hilfreich für ein gesundes Aufwachsen.
Welche Grenzen sind zwingend nötig?
Überall, wo es richtig gefährlich ist, wie im Strassenverkehr, bei fliessenden Gewässern oder Feuer. Bei anderen Dingen ist die Frage, ob es ein Bedürfnis oder ein Wunsch des Kindes ist. Bei einem Bedürfnis sollte man möglichst immer ja sagen, ausser, es geht ganz krass gegen ein anderes Bedürfnis. Bei Wünschen hingegen kann es gut auch mal ein Nein geben.
Buchtipps zu Bedürfnisorientierter Erziehung
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«Babyjahre» von Remo H. Largo ist längst ein Klassiker für Eltern, die sich an einer kindgerechten Erziehung orientieren möchten.
Seit der Steinzeit haben Babys dieselben Bedürfnisse, doch unsere moderne Welt passt nicht immer dazu. Wie Eltern dem biologischen Urprogramm dennoch gerecht werden können, zeigt «Artgerecht – das andere Babybuch» von Nicola Schmidt. Es gibt eine Fortsetzung zum Thema Kleinkind.
Wenns dann in die Autonomiephase geht, kann «Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn» von Danielle Graf und Katja Seide helfen – eine unterhaltsame Fusion aus persönlichen Erfahrungen, praktischen Tipps und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Kaum jemand macht Eltern so wütend wie die eigenen Kinder. Emotionen wie Angst, Kränkbarkeit und Stress können dazu führen – hier hilft «Mama, nicht schreien» (Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter), weil es bei den Eltern und deren Triggern ansetzt.
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul ist quasi der Papst der bedürfnisorientierten Erziehung. «Nein aus Liebe» ist nur eines von vielen seiner hilfreichen Büchern zum Thema. Es gibt auch Familylab-Gruppen zu seiner Philosophie.
Obwohl ich bedürfnisorientiert erziehen möchte, habe ich als Mutter immer wieder schwache Momente, in denen ich laut und manchmal unfair werde. Was kann man in diesen Momenten tun?
Man muss kein stiller, gelassener Buddha sein. Man darf schimpfen und fluchen und laut werden. Ein Beispiel: Ich bin gestresst nach einem langen Arbeitstag. Das Kind wirft das Wasserglas um. Aber ganz wichtig: Nicht das Kind in seiner Integrität verletzen! Ich darf mich aufregen: «Oh nein, jetzt muss ich alles aufputzen, ich halte es nicht aus, ich bin müde und überfordert.» Was nicht passieren darf: «Du blödes Kind, ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst aufpassen, kannst du nicht einmal ein Wasserglas richtig halten, bist du sogar dafür zu blöd?»
Gibt es einen Tipp, wenn es in einem brodelt und man gleich losschreien möchte?
Liebevoll mit sich sein. Wenn man geschimpft hat und sich über sich selbst aufregt, sich mal in den Arm nehmen und sagen, «ich bin gut so, wie ich bin». In der Situation selbst: Die Anzeichen für die eigene Wut kennen und wahrnehmen. Merken, jetzt bin ich kurz davor, zu explodieren. Sich dann sofort vom Kind wegdrehen, die Hände hinter dem Rücken ineinander ballen, gerade, wenn man den Impuls verspürt zu schütteln oder gar zu schlagen. Dann die Gefühle weggedreht vom Kind rauslassen, stampfen, schreien. Nicht in sich hineinfressen, dann wird es meist noch schlimmer.
Fast alle Mütter, die ich kenne, haben regelmässig ein schlechtes Gewissen (gegenüber den Kindern, dem Partner, dem Chef).
Diese Schuldgefühle sind ein Überbleibsel aus unserer Generation. Viele von uns sind so gross geworden. Es wurde uns immer wieder ein schlechtes Gewissen gemacht. Aus «du musst ein braves kleines Mädchen sein» wurde irgendwann «Du musst eine gute Ehefrau sein». Da finde ich es ganz hilfreich, wenn man diese System des schlechten Gewissens für sich selbst nutzt: «So, jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen mir selbst gegenüber. Ich bin meine erste Priorität. Habe ich mich heute schon in den Arm genommen und gesagt, ich bin gut so wie ich bin? Habe ich mich heute schon ganz bewusst hingesetzt und meinen Kaffee oder Tee getrunken?» Wenn im Flugzeug ein Druckabfall kommt, soll man auch immer erst sich selbst die Sauerstoffmaske anziehen und dann den anderen helfen.
Was macht für Sie eine stabile Eltern-Kind-Beziehung aus?
Wenn sich die Eltern ihrer Rolle bewusst sind. Wenn sie wissen, «ich habe eine Verantwortung für die Beziehung zu meinen Kindern und für die Stimmung in der Familie. Ich habe die Führungsverantwortung und ich sehe meine Kinder, höre sie und nehme sie ernst». Dann entsteht ein sehr stabiles Konstrukt. Dann wissen die Kinder, «ich kann mich auf meine Eltern verlassen, sie sind für mich da. Wir können streiten, meine Mama hat gute und schlechte Tage, mein Papa schimpft mal, aber sie lieben mich, wie ich bin, ich darf so sein, wie ich bin».