Die Idee, die schon während Jahrhunderten kursierte – dass sich Tier- und Pflanzenarten allmählich entwickelt haben –, wurde mit dem Werk «Über die Entstehung der Arten» des Engländers Charles Darwin auf eine wissenschaftlich solide Basis gestellt. Die erste Auflage erschien 1859.

Dank Analysen der Erbsub­stanz (DNA) kann sich die Wissenschaft heute ein viel besseres Bild davon machen, wann und in welcher Reihenfolge die verschiedenen Gruppen von Lebewesen, insbesondere Tiere und Pflanzen, entstanden sind (siehe Box). Nachfolgend wird die Evolution der Rosengewächse, Rosaceae, genauer unter die Lupe genommen.

 

Entstehung im Wandel der Zeit

Nachfolgend die Auflistung des (ersten) Auftretens, der noch heute vorkommenden Organismengruppen auf, wobei der Fokus auf den apfelartigen Rosengewächsen (Rosaceae) liegt.

Mio. JahreEreignis
4500Entstehung der Erde und des Lebens (Korallen, Bakterien, Algen)
2000nur Wasserpflanzen und Riffe im Urmeer
400Schachtelhalm, Farn und Bärlapp, erste Pflanzen an Land
300(Nacktsamer), Nadelholz, Gingko entstehen
140(Bedecktsamer), Laubholz, Blütenpflanzen mit photosynthetischer Fähigkeit, Bienen und Wespen
100Erste Vertreter aus der Gruppe der Rosengewächse erscheinen
50Kernobst mit Felsenbirne und Weissdorn tritt auf, auch die Mistelpflanzen
21Genetiker vermuten, Apfel- und Birnenlinien trennen sich
10Obstwälder in Zentralasien im Tian-Shan-Gebirge
0,006Pfahlbauäpfel in der Schweiz
0,003 Sternapi und Sept-en-gueule, Sorten aus vorchristlicher Zeit in der Schweiz
0,0001Die Sämlinge Wehntaler Hagapfel und Gyrenbader Quitte sind entstanden

(Quelle Klaus Gersbach)

Ausbreitung mit Hilfe von Tieren

Auf der Internetplattform Wikipedia liest man, dass das Kernobst durch eine rasche, lange zurückliegende Sippenaufspaltung (Radiation) entstanden sein dürfte. Molekularbiologisch können erste Vertreter von Rosengewächsen, wie Felsenbirne, Weissdorn und Glanzmispel, bis auf rund 48 bis 50 Millionen Jahre zurückdatiert werden. Diese rasche Radiation wird auf die fleischigen Apfelfrüchte zurückgeführt und die damit zusammenhängende Selektion und Ausbreitung durch Tiere.

Die Kreuzungen verschiedenster Wildarten und Sorten (Hybridisierung) hätten wohlbei der Evolution der Rosengewächse und vieler anderer Pflanzengruppen auch eine wichtigeRolle gespielt. Durch die Hybridisierung entstanden wertvolle Sorten (Sämlinge), wie zum Beispiel vor gut 100 Jahren der Wehntaler Hagapfel und die Gyrenbader Quitte.

 

Robust gegen Krankheiten

Der Wehntaler Hagapfel ist eine gute Most- und eine alte Tafelapfelsorte. Er wurde vor zehn Jahren in die nationale Obstsortensammlung in Höri ZH gebracht. Als man ihn auf einen schorfanfälligen Baum pfropfte, zeigte sich bald eine erstaunliche Robustheit gegen die häufigsten Obstbaumkrankheiten. Ebenfalls stellte sich heraus, dass diese Sorte auch gegen die in der Schweiz neu aufgetretene Pilzkrankheit Marssonina sehr robust ist. Das macht die Sorte zum idealen Hochstamm-Feldobstbaum, wo kaum mehr chemischer Pflanzenschutz angewendet wird, und eignet sich ebenso als Niederstamm für den Bioanbau in den Hausgärten.

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Wehntaler Hagapfel


Einzigartige Sorte

Während des Inventarisierungs-Projekts alter Quittenbäume, das von 2017 bis 2018 durch Fructus mit Unterstützung des Bundesamts für Landwirtschaft durchgeführt wurde, entdeckte man einen 95 Jahre alten Baum und gab der Sorte den Namen Gyrenbader Quitte. Diese ist robust gegen die Quittenblattbräune, der schlimmsten und häufigsten Pilzkrankheit an Quittenbäumen. Die entdeckte Sorte hat ein deutlich anderes Genprofil, als alle bisherigen und neu entdeckten, alten Quitten in der Schweiz. Sie ist ein Unikat. Ohne das Projekt wäre diese Sorte samt Baum vielleicht ausgestorben. Mankann sie in Obstbaumschulen kaufen.

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Gyrenbader Quitte

Äpfel und Bienen entwickelten sich in Abhängigkeit von einander

Äpfel und Birnen sind Fremdbefruchter. Weil es schon vor zirka 100 Millionenb Jahren Bienen und andere Insekten gab, scheint eine grosse Erneuerung von Arten und Sorten durch Kreuzung selbstverständlich. Bienen und Blütenpflanzen haben sich nämlich evolutionär in Abhängigkeit voneinander entwickelt.

Die bis heute bei Obstsorten immer noch bekannten, natürlichen Veränderungen sind nebst den Kreuzungen die Mutationen. Das sind spontan auftretende, meist dauerhafte Veränderungen des Erbgutes, was sicher auch zur Evolution beim Obst von Bedeutung war. Aus jüngerer Zeit bekannt sind insbesondere Farbmutationen bei den neueren Sorten wie z. B. Jonagold, Gala und früher in den USA bei Red Delicious sowie vielen anderen. Daraus entstanden dann neue Sortentypen, wie der rote Jonagoldtyp «Jonagored» und viele weitere. Diese Farbtypen können mit den heute verwendeten Genanalysen nicht vom Original unterschieden werden.

Kasachstan als Ort des Urapfels

Eine Selektion bei den Uräpfeln zu aromatischen Sorten mit grossen Früchten geschah in den Urobstwäldern in Zentralasien durch Tiere. Dazu sagte Barrie Juniper, Molekulargenetiker aus Deutschland: «Im Gebiet Alatau des Tian-Shan-Gebirges haben die Braunbären über Jahrmillionen für die Selektion von besonders wohlschmeckenden, süssen und grossen Exemplaren von Malus sieversii (Asiatischer Wildapfel) Äpfeln gesorgt. Wenn sie ihren Kot an zahlreichen Stellen absetzen, können die in ihm enthaltenen Samen neue Pflanzen und somit Sorten bilden.» Juniper weiss, wovon er spricht, er war mehrmals in den Apfel-wäldern und sagt in einem seiner Berichte: «Es ist möglich, dass die Obstwälder im Tian-Shan-Gebirge sechs bis zehnMillionen Jahre alt sind.»

Einer, der sein ganzes Leben der Erforschung und dem Schutz des Malus sieversii widmete, war der kasachische Wissenschaftler und Pomologe Aymak Djangaliev (1913–2009). Dank ihm stehen noch heute rund 300 Jahre alte Apfelbäume mit einem Stammumfang von bis zu sechs Metern. Unter ihnen auch Bäume mit sternförmigen Früchten. Man kann deshalb davon ausgehen, dass ein Sternapi-Baum, der in der Westschweiz steht, ein originaler Malus sieversii aus Kasachstan ist.

 

Aus prähistorischer Zeit

Die Sorte Sternapi (Api étoilée) ist heute wohl die älteste der kultivierten Apfelsorten und bildet mit ihren fünf ausgebuchteten Kanten eine interessante botanische Urform. Laut diversen Recherchen ist er ein Malus sieversii und stammt aus den Urapfelwäldern Kasachstans, der Urheimat des Apfels. Die Sorte ist zirka 3000 Jahre alt. Sie wurde so alt, weil sie frosthart ist und auch als Stammbildner für Hochstammbäume verwendet wurde. In der Schweiz wurde der Sternapi durch Fructus am Genfersee unter dem Namen «Blumenapfel» entdeckt. Der Pomologe Roger Corbaz bestimmte die Sorte, pfropfte sie und hat sie so vor dem Aussterben gerettet. 

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Sternapi

Pfahlbauer hatten bereits Apfellager

Verschiedene molekulargenetische Arbeiten im 21. Jahrhundert haben frühere Thesen bestätigt, dass unser heutiger Kulturapfel Malus domestica von Malus sieversii abstammt. Nach dem Ende der letzten Eiszeit in der Schweiz, vor rund 10'000 Jahren, sind auch bei uns kleine Wildäpfel entstanden. Das beweisen viele 6000 Jahre alte, verkohlte Äpfel bei Ausgrabungen von Pfahlbausiedlungen, wie z. B. am Zürichsee. Diese zirka drei Zentimeter breiten Früchte waren oft ohne Stiel und halbiert. Man kannannehmen, dass die Siedler Früchtelager anlegten. Diesen Apfelbäumen der Schweizer Pfahlbauer hat die Zeit gefehlt, durch die natürliche Evolution grosse wohlschmeckende Apfelfrüchte zu entwickeln.

Apfel und Birne trennten sich vor 21 Millionen Jahren

Interessant sind Forschungsresultate von Gentechnikern aus Deutschland, die Vermutungen aufstellen, dass die Evolution bei Äpfeln und Birnen vor 21 Millionen Jahren getrennte Wege ging.Grund dafür waren aktiv werdende Transposonen. Das sind springende Gene, die in der Erbanlage ihre Position verändern können. Man vermutet, dass die Vorfahren des modernen Apfels während der Geburt des Tian-Shan-Gebirges über längere Perioden einer sich wandelnden Umgebung ausgesetzt waren, was zusätzlichen Stress bedeutete. Letzteres wiederum begünstigt nach jüngsten Erkenntnissen die Aktivierung und Verbreitung von Transposonen im Erbgut. Es ist nicht auszuschließen, dass die Evolution dadurch einen deutlichen Impuls erhielt und die Diversifizierung zwischen Apfel und Birne gefördert wurde. Dieselben Wissenschaftler vermuten auch, dass sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Apfels sein Chromosomensatz vor zirka 50 Millionen Jahren einmal verdoppelt hat.

 

Die Kleinste der Welt

Bei der Birnensorte Sept-en-Gueule handelt es sich um eine äusserst alte Sorte, deren Ursprung in das vorchristliche Zeitalter datiert wird. Der Römer Plinius erwähnte sie 80 Jahre nach Christus unter dem Namen Poire Superbe (wunderbare Birne). Der berühmte Mediziner und Botaniker Jean Bauhin aus Basel stellte 1590 fest, dass diese Birnensorte mit dem wunderbaren Muskat-Aromain der Region Lyon (F) häufig vorkomme. In der Schweiz wächst sie an einem riesigen Baum, mit einem Stammumfang von 4,7 Metern, in Orges VD. Er trägt wohl die kleinste Tafelbirnensorte der Welt, die schon Mitte Juli essreif ist.

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Sept-en-Gueule

Alte Genetik für die Äpfel der Zukunft

Der Grund für die Verwendung alter Sorten, z. B. für die Züchtung neuer Apfelsorten, ist vor allem die möglichst langjährig wirksame, breite Robustheit gegen die wichtigsten Pilzkrankheiten. Bei gewissen schorfresistenten Sorten, die mit Einzelresistenzen aus Wildäpfeln gezüchtet wurden, zeigte sich nach einer gewissen Zeit, dass die Resistenz vom Schorf durchbrochen werden kann. Nebst neuen Zuchttechniken sind deshalb auch vermehrt alten Apfelsorten mit einer genetisch breiten Robustheit sehr gefragt. Beispiele dafür sind z. B. alte Schweizersorten wie Wehntaler Hagapfel, Kaister Feldapfel und weitere.

Gegen den Feuerbrand werden in der Schweiz Wildapfelsorten wie etwa Malus baccata aus den Urapfelwäldern in Südwestchina auf ihre Robustheit geprüft. Züchter Markus Kellerhals an der Agroscope in Wädenswil ZH hat M. baccata, nebst anderen Wildäpfeln wie M. robusta 5 und M. fuscan in seinen Züchtungsprogrammen mit dabei.

 

Glossar

Evolution: Eine von Generation zu Generation stattfindende, allmähliche Ver-änderung der vererbbaren Merkmale einer Population von Lebewesen.

Fructus: Vereinigung zur Förderung alter Obstsorten. Fructus hat in der Schweiz zahlreiche alte Obstsorten vor dem Aussterben bewahrt und engagiert sich stark in der Nutzung von alten Obstsorten.

Pomologie, auch die Obstbaukunde: Die Lehre der Arten und Sorten von Obst sowie deren Bestimmung und systematischer Ein-teilung. Der Begriff Pomologie ist vom lateinischen Wort pomum, für Baumfrucht, abgeleitet. Einer der ersten, grossen Schweizer Vorläufer der Pomologen ist Johannes Bauhin (1541–1613). Er hat im Werk «Historia Plantarum Universalis» 63 Apfelsorten beschrieben und teils auch gezeichnet.

Rosaceae: Zur Familie der Rosaceae gehören kurzgesagt Kern-, Stein- und Beerenobst sowie die namengebenden Rosensträucher und weitere Gattungen. Die Kernobstgewächse (Pyrinae) sind eine Pflanzensippe in der Familie der Rosaceae. Sie umfasst viele Obstarten wie z. B. Äpfel, Birnen und Quitten mit den charakteristischen Apfelfrüchten.