In der Hochstamm-Obstanlage von Marianne Röthlisberger in Bäretswil ZH steht ein über 130 Jahre alter Apfelbaum der Sorte Leuenapfel. «Dieser ist ein Spezialmostapfel und gibt den besten Most her. Vergangenes Jahr hat uns die Ernte 500 Liter beschert», schwärmt die Bäuerin. Doch ihr Blick verdüstert sich, als sie auf den alten Baum blickt. Seit einigen Jahren macht sich die Weissbeerige Mistel auf dem Hochststamm-Apfelbaum breit.
Vor allem jetzt im Frühjahr zeigt sich das Ausmass besonders gut: Während die untere Hälfte der späten Apfelsorte noch nicht belaubt ist, zeigt sich die Krone durch den starken Mistelbefall in einem satten Grün. Marianne Röthlisberger sorgt sich um ihren alten Baum. Bereits 2007 bereitete ihr ein Feuerbrandbefall Bauchschmerzen: «Man sagte mir, dass der Leuenapfel nicht mehr zu retten sei und gerodet werden müsste.» Dagegen wehrte sich die Bäuerin aber vehement. «Ich hänge emotional an dem Baum. Mein Urgrossvater pflanzte ihn einst», schildert sie.
«Ich hänge emotional an unserem 130-jährigen Leuenapfel.»
Bäuerin Marianne Röthlisberger möchte ihren stark befallenen Baum nicht aufgeben.
Der Baum durfte zu Forschungszwecken stehen bleiben. Aufgrund des Alters und des damit einhergehenden geringen Wuchses ist die Bakterienkrankheit im Obstgarten nicht mehr aufgetreten. Doch die Mistel ist nun ein Dorn im Auge: «Ich habe deshalb bei Klaus Gersbach von der Vereinigung Fructus Hilfe gesucht. Er hat mich damals schon sehr unterstützt», erzählt sie. Als Gersbach den Betrieb besucht, ist er entsetzt über den massiven Befall, auch an anderen Obstbäumen in der Anlage. «Bäretswil war bisher weit herum Mistel-frei», erklärt er.
Seit mehr als 15 Jahren breitet sich die Mistel in der Schweiz massiv aus und gefährdet insbesondere alte Hochstamm-Apfelbäume. Im Falle von Marianne Röthlisberger soll nun ein starker Rückschnitt helfen, der Mistel Herr zu werden.
Besonders Weichhölzer bevorzugt
Misteln gehören zum Schweizer Brauchtum. Im Volksglauben gilt der Mistelzweig als Glücksbringer, wenn man ihn an Türstürzen oder Lampen anbringt. Ein Kuss unter dem Mistelzweig soll die Liebe festigen, heisst es. Auch als Heilpflanze hat die Mistel eine lange Tradition. Dass sie aber ein Schmarotzer ist und Hochstamm-Apfelbäume gefährdet, ist wohl den Wenigsten bekannt.
Hierzulande treibt insbesondere die Weissbeerige Mistel (Viscum album) ihr Unwesen, die weibliche sowie männliche Pflanzen bildet. Von ihr gibt es drei Unterarten:
- Laubholzmistel – befällt nur Laubbäume, v. a. Weichhölzer wie Birken, Linden, Pappeln, Weiden, aber auch Apfelbäume (kein Befall von Birnen und Steinobst),
- Tannenmistel (v. a. Weisstannenarten) und Föhrenmistel (v. a. verschiedene Föhrenarten, seltener Fichten) – beide befallen keine Apfelbäume.
Junge Bäume durch regelmässige Pflege wenig betroffen
Klaus Gersbach hat bei seinen Recherchen festgestellt, dass insbesondere grosse alte Hochstamm-Apfelbäume von einem Mistelbefall betroffen sind, darunter auch die Sorten Leuenapfel und Schneiderapfel. Junge Bäume sind wenig betroffen. «Die regelmässige Pflege ist wohl ein Hauptgrund dafür. Weil sie aber selbst noch stark im Wachstum sind, können sie die Mistel mit deren Ausscheidungsprodukten möglicherweise besser verdrängen», erklärt der Fructus-Berater. Marianne Röthlisberger konnte ihren 130-jährigen Baum nicht mehr schneiden. «Er ist über 15 m hoch, wie soll ich da hoch kommen? Mit einer Leiter ist das nicht machbar», begründet sie.
«Die Mistel breitet sich immer mehr auf Apfelbäumen aus.»
Klaus Gersbach, Obstexperte bei Fructus, der Vereinigung zur Förderung alter Obstsorten.
Was macht die Mistel so gefährlich?
Übertragen wird die Mistel von verschiedenen Vogelarten, hauptsächlich von der Misteldrossel. «Sie ernährt sich vor allem im Winter von ihren weissen Beeren, wenn es sonst kein Futter gibt. Die klebrigen Samen streift sie mit ihrem Schnabel an einem Ast ab. Oder sie werden mit dem Kot auf einem entfernten Baum ausgeschieden», weiss Klaus Gersbach.
Aber auch die durchschnittlich höheren Jahrestemperaturen und die vielen ungepflegten Bäume stehen im Zusammenhang mit der starken Vermehrung des Schmarotzers. Von einzelnen Fachleuten wird die Mistel deshalb als grössere Gefahr für die Hochstamm-Apfelbäume angesehen als der Feuerbrand. Einmal am Ast etabliert, saugt sie ihrem Wirt wortwörtlich den Lebenssaft aus (Biologie der Mistelpflanze: hier). Die nachfolgenden Äste sterben ab, was sich auf den Ertrag stark befallener Bäume negativ auswirkt.
Misteln müssen korrekt entfernt werden
Mit einer vier Meter langen Teleskop-Baumschere und kippbarem Schneidkopf zwackt Klaus Gersbach einen befallenen Ast 40 cm hinter der Mistelpflanze ab (Tipps zur Entfernung).
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Die abgeschnittene Seite des Astes wird von ihm akribisch überprüft. «Der Querschnitt ist sauber, wir sehen keine grünen Senker der Mistel», zeigt er.[IMG 3]
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Zum Vergleich holt er ein Stück Ast aus seiner Tasche hervor, wo der Schnitt zu nah an der Mistel erfolgte. «Hier sind die Senker noch vorhanden. D. h. ein Teil der Mistel wurde nicht erfasst und wird sich in ein oder zwei Jahren nochmals an der Schnittstelle ausbilden. Der Baum wird also weiterhin geschwächt.»
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Die Äste werden brüchiger und geben z. B. im Winter den Schneelasten nach – wie auch Marianne Röthlisberger es an ihrem 130-jährigen Baum beobachten musste. «Wir hatten einen Meter Schnee, zusammen mit der Nässe konnte ein grosser Ast des Leuenapfelbaumes dem Gewicht nicht mehr standhalten.»
Mistel bereits zehn Jahre auf dem Hof
Marianne Röthlisberger hat erst vor drei bis vier Jahren die erste Mistelpflanze auf dem Leuenapfel entdeckt. «Sie sind anfänglich so klein, dass man sie gar nicht sieht», erzählt sie. Dass sich diese einmal derart ausbreiten würde, damit rechnete die Bäuerin nicht. Doch die Mistel ist schon weitaus länger – in kleiner Anzahl –, in Röthlisbergers Anlage.
«Die Anzahl der Äste bzw. Verzweigungen der Mistel geben Auskunft über ihr Alter», so der Fructus-Berater. Er zählt insgesamt fünf Verzweigungen, zusätzlich muss noch ein Jahr hinzugerechnet werden, in dem die Samen vom Vogel eingebracht wurden. «Das bedeutet, dass diese Mistelpflanze sechs Jahre alt ist.»
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Auf einem Schneiderapfel, der, allem Anschein nach auch andernorts, sehr «empfänglich» für die Mistel ist, entdeckt Gersbach weitere Pflanzen. Sogar eine, die bereits zehn Jahre zählt.
Der Aufwand wird zu gross, wenn ...
«Kann der Leuenapfel überhaupt noch gerettet werden?», fragt die Redakteurin den Fachmann. «Ein stark befallener alter Obstbaum kann eigentlich nie mehr ganz saniert werden, ohne zu viele ganze Äste wegzuschneiden. Wenn 1/3 der Äste befallen sind, dann wird der Aufwand viel zu gross. Deshalb ist es wichtig, schon früh mit der Entfernung zu beginnen.»
Weil Marianne Röthlisberger emotional am Baum hängt, geht sie den Aufwand gerne ein. Eine Hebebühne ist bestellt, um den gesamten Baum von seinen Misteln zu befreien. Der Besitzer des Geräts, Landwirt Albert Hess aus Wald ZH, führte die Sanierung des grossen Apfelbaumes durch. Dafür benötigte er trotz seiner Routine drei Stunden.
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Links: Landwirt Albert Hess entfernt die Mistel mit der Hebebühne. Rechts: Nach drei Stunden Arbeit ist der Baum Mistel-frei, aber kaum mehr zu erkennen
Abgeschnittene Misteln klein häckseln oder verbrennen
Für 50 Franken pro Arbeitsstunde und mindestens 100 Franken für den Hin- und Rücktransport (je nach Distanz) kann man das Gerät bei Hess mieten (Tel. 077 403 78 98). Die abgeschnittenen Misteln sollen gemäss Klaus Gersbach gehäckselt oder verbrannt werden. Sie auf Asthaufen liegen zu lassen, bringe wenig, da auch dort die Vögel an ihre schmackhaften weissen Beeren gelangen und so die Mistelpflanze weiterverbreiten.
Die Öffentlichkeit muss in die Pflicht genommen werden
Das Abschneiden und Beseitigen von Misteln gehört zur normalen Baumpflege. Wird diese vernachlässigt, breitet sich der Schmarotzer weiter aus. Immer mehr sind auch andere Bäume wie Birken, Linden, Ahorn und Pappeln im Wohngebiet befallen. «Da gilt es die Gemeinden, Kantone und die Öffentlichkeit in die Pflicht zu nehmen und sie zu bitten, ihre Bäume von Misteln sauber zu halten», appelliert Klaus Gersbach.
Freiwilliges Entfernen kann helfen, die Ausbreitung zu stoppen
In der Schweiz ist die Mistel an Obstbäumen Ende des 18. Jahrhunderts zur Plage geworden. Verschiedene Kantone hatten damals Verordnungen erlassen, die Misteln von den Bäumen zu entfernen. Gersbach könnte sich eine freiwillige Variante vorstellen wie 1986, als die Pilzkrankheit Birnengitterrost von den Wacholderstauden der Privatgärten auf Birnbäume übertragen wurde. Der Bund hatte dazumal ein informatives Merkblatt geschaffen mit der Bitte, die Besitzer sollten ihre mit Gitterrost befallenen Wacholderpflanzen freiwillig roden, was auch funktionierte. Damals wie heute geht es darum, mit den grossen Feldobstbäumen unser wertvolles, farbiges Landschaftsbild zu erhalten.