Für den Verein Schweiz zum Schutz der ländlichen Lebensräume vor Grossraubtieren (VSLvGRT) stellt sich aktuell die Frage, ob die Schweizer Nutztierhaltung noch zu retten ist. So titelt der Verein seinen offenen Brief an Umweltministerin Simonetta Sommaruga. Die Situation sei ernst, so die Schilderungen: In der kurzen Zeit seit Beginn der diesjährigen Weidesaison würden sich im ganzen Land bereits die Nutztierrisse durch Wölfe «massiv häufen».

80 Tiere in zwei Kantonen

Die allermeisten Wolfsangriffe hätten sich mitten im Siedlungsgebiet ereignet, fährt der VSLvGRT fort. Im Tessin sei der Verlust von über 50 Nutztieren zu beklagen, im Kanton Wallis deren weit über 30. In einer illegalen Aktion haben die Tessiner Weidetierhalter Ende April ihrer Verzweiflung Luft gemacht und dutzende vom Wolf getötete Muttertiere und Lämmer vor dem Regierungsgebäude in Bellinzona abgelegt.

Tierhalter könnten illegal handeln

Wenn sich die Situation weiter zuspitzt, ist es aus Sicht des Vereins wahrscheinlich, dass die Weidetierhalter zum Schutz ihrer Tiere das Heft selbst in die Hand nehmen. Sie würden damit in die Illegalität gedrängt, so die Warnung. Zwar ist man sich der Arbeit der Behörden in Sachen Wolf bewusst, etwa der Überarbeitung der Direktzahlungsverordnung und der Umsetzung der vom Parlament geforderten Not-Sofortmassnahmen. «Doch all diese Massnahmen kommen spät, wen nicht zu spät.»

Ganze Talschaften könnten verganden

Von der Bundesrätin fordert der VSLvGRT, dass sie ihrerseits die kantonalen Dienststellen zum raschen und unbürokratischen Erteilen der Abschussbewilligungen nach geltendem Recht anhält. Ausserdem sollen Wolfsrudel mit Streifgebieten in Siedlungsnähe «umgehend und zielführend» reguliert werden.

«Ohne die Möglichkeit und die Perspektive den weiter massiv zunehmenden Wolfsangriffen etwas entgegenzusetzen, steigt die Verunsicherung der betroffenen Bevölkerung ins Unerträgliche», heisst es weiter. So könnten der verfassungsmässige Auftrag zur Offenhaltung und Pflege der Berg- und Alpweiden sowie die dezentrale Besiedelung nicht mehr gewährleistet werden. Am Ende würden Betriebe aufgegeben und ganze Talschaften verganden, warnt der Verein.

«Schweizer Wölfe bleiben weiterhin brav»

Ganz anders tönt die Beschreibung der Wolfssituation hierzulande bei der Gruppe Wolf Schweiz (GWS). Sie betont, die Zahl der gerissenen Nutztiere sei mit rund sechs Rissen pro Wolf im Jahr 2021 tief, sogar der tiefste Wert seit vielen Jahren. So hätten um die Jahrtausendwende sechs Wölfe über 200 Nutztiere gerissen, 2021 waren es 148 Wölfe aber «nur» 853 Risse. «20-mal mehr Wölfe verursachten also lediglich viermal mehr Risse», hält die GWS fest.

Regulierung schütze nicht 

Für die Gruppe ist das ein klares Zeichen, dass der Herdenschutz funktioniert. Im Gegensatz zur Regulierung, die keinen nachweislichen Schutzeffekt habe. Gleichzeitig steht für sie ausser Frage, dass ohne Schutzmassnahmen die Sömmerung von Tieren keine Zukunft hat. Das gelte insbesondere auch für als «nicht schützbar» deklarierte Alpen. Diese würden durch die steigenden Wolfsbestände einem Druck ausgesetzt, dem sie langfristig nicht standhalten würden. «Es stellen sich darüber hinaus für diese Alpen auch tierschutzrechtliche Bedenken, da Halter ihre Tiere vor bekannten Gefahren schützen müssen.». Heute wirtschaftlich nicht schützbare Alpen künftig schützbar zu machen, müsse daher das oberste Ziel sein. «Verstärkter Herdenschutz ist keine Übergangslösung, sondern neue Realität», so die GWS abschliessend.