Es ist für viele ein ungewohntes Bild, einen Menschen auf einer Kuh reiten zu sehen. Nicht schlecht gestaunt haben dürfte deshalb die Leserschaft der Schweizer Tageszeitung 20min, die auf ihrer Frontseite eine Kuhreiterin aus dem Bernbiet zeigte. Tatsächlich gibt es im In- und Ausland immer mehr Angebote zum Ausritt auf Kühen. Doch ist das Reiten auf einem Rindvieh überhaupt tiergerecht? 

Aus medizinischer Sicht grundsätzlich unproblematisch

Sowohl von einem tiermedizinischen als auch einem tierethischen Standpunkt aus gesehen sei das Reiten auf Kühen durchaus praktikabel, befindet Sibylle Zwygart, Tierärztin und Doktorandin an der Berner Wiederkäuerklinik. Sie weist darauf hin, dass es auch hierzulande bis vor kurzem noch Gang und Gäbe war, dass Kühe in dreifacher Nutzung nicht nur als Fleisch- und Milchlieferanten, sondern auch als auch als Arbeitstiere gehalten wurden. «Noch heute gibt es Rassen, die diese Eigenschaften mitbringen, wie ein Blick in andere Länder zeigt. Dort werden Kühe bis heute geritten», sagt die Expertin. Allerdings gebe es bislang keine Studien dazu, wie sich regelmässiges Reiten auf ein Rind auswirke.

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Tierärztin und Kuhkennerin Sibylle Zwygart mit ihrer Kuh Svea. Zwygart bietet erflogreich «Kuhkuscheln» und Kurse zur Kommunikation mit Kühen an. (Bild Miriam Kolmann)

Entscheidend:Nur ausgewachsene und fitte Tiere reiten

Obwohl das Reiten auf Kühen also grundsätzlich machbar ist, gilt es laut Zwygart einige Dinge zu beachten, wenn man sich bei einem Rindvieh in den Sattel schwingen möchte. Alles stehe und falle mit der Wahl des richtigen Tiers, hält sie grundsätzlich fest. «Eine Holsteinkuh in Hochlaktation ist mit ihrem grossen Euter sicherlich kein geeignetes Reittier», sagt die Tierärztin.

Wichtig sei es, dass ein Rind beim Einreiten bereits ausgewachsen sei. Da sich die Wachstumsfugen der Knochen erst im Alter von etwa drei bis vier Jahren schliessen, sollte ein Rind vorher nicht mit dem Gewicht eines Reiters belastet werden – dies gilt auch bei Pferden. Vorsicht geboten ist gemäss Zwygart bei Zwicken und früh kastrierten Ochsen, da sich solche Tiere bis ins Alter von rund acht Jahren im Wachstum befinden können.

Übergewicht reduziert die Tragkraft

Neben dem Alter ist auch auf das Gewicht des Reittiers zu achten. «Man sollte sich am Idealgewicht eines Tiers orientieren, nicht an seinem tatsächlichen Gewicht», sagt Tierärztin Zwygart. Sogenannte «Hobbyrinder», wie etwa Zwicke, müssten keine Fleisch- oder Milchleistung erbringen und seien bei unveränderter Fütterung häufig eher gut genährt. Dass solche übergewichtigen Tiere weniger Traglast stemmen können, muss also mit einkalkuliert werden. Als Richtwert zur Berechnung einer möglichen Traglast empfiehlt die Expertin zehn bis fünfzehn Prozent des Körpergewichts des Rindviehs: «Lässt ein Rind unter dem Reitergewicht den Rücken nach unten durchhängen, ist das ein deutliches Anzeichen, dass die Person zu schwer ist.»

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Das beliebte Kuhrennen ist jeweils einer der Höhepunkte an der St. Galler OLMA. (Bild zVg)

Signale des Tiers beachten

Grundsätzlich gelte es das Verhalten eines Tiers zu beachten und entsprechend zu handeln, sagt Zwygart. Zeige ein Rind etwa Unmut beim Satteln, beim Aufsteigen oder gar beim Reiten, passe entweder das Reitequipment nicht, oder die Last sei zu gross. Ausserdem eigneten sich nicht alle Rinder und alle Reiter für einander; Rasse und Grösse seien entscheidend. «Der Reiter sollte im rippengestützten Bereich eines Rindes sitzen, da dieser durch die Abstützung auf das Brustbein tragfähiger ist, als die Lendenwirbelsäule», erklärt Tierärztin Zwygart. Sie empfiehlt, ein Rind langsam daran zu gewöhnen, dass es geritten wird. Dabei soll die Traglast langsam, aber kontinuierlich gesteigert werden, damit sich die entsprechenden Muskeln ausbilden können. 

Vorsicht geboten

Passen eine Kuh und ihr Reiter zusammen und wird geeignetes Equipment verwendet, stellt das Reiten auf einer entsprechend trainierten Kuh kein Problem dar. Sind diese Umstände aber nicht gegeben, kann das Reiten auf einer Kuh durchaus negative Folgen haben. Ist das Reittier etwa zu wenig fit oder die Traglast regelmässig zu hoch, kann es zu Rückenschmerzen oder sogar Gelenkschäden kommen. Ebenso warnt Expertin Zwygart vor dem Einreiten von zu jungen Tieren, da dies zu nachhaltigen Störungen der körperlichen Entwicklung des Tiers führen kann.

 

Historische und legendäre Kuhreiter

Ein Blick in die Kulturgeschichte zeigt, dass Menschen schon sehr lange auf Kühen und Stieren reiten. Dass sich ein Rindvieh nicht nur melken und verspeisen lässt, wusste man nämlich schon in der Urzeit. Höhlenmalereien legen nahe, dass Kühe sogar vor Pferden geritten wurden. Da Pferde aber auf Dauer schneller und leistungsfähiger sind, haben sie sich als bevorzugte Reittiere durchsetzen können.

Dennoch finden sich in Mythen und Sagen aus vielen Kulturkreisen immer wieder Kuhreiterinnen und Kuhreiter. Der griechische Dichter Ovid berichtet beispielsweise um 800 v. Chr., wie einer alten Sage nach die phönizische Prinzessin Europa den nach ihr benannten Kontinent auf dem Rücken eines göttlichen Stiers erreicht haben soll. Im alten Persien erzählte man sich Geschichten von einem mythischen Kuhreiter Feridun, der mit der Milch einer heiligen Kuh aufgezogen worden sein und diese später auch geritten haben soll. Auch den Mond stellten sich die Perser als Reiter auf einem weissen Stier vor. Und heutzutage kennt jedes Kind das Bild des Bullenreiters beim Rodeo – wo es wesentlich wilder zugeht, als beim gemütlichen Ausritt auf einer Kuh.