Als ich vor rund drei Jahren zum ersten Mal einer Eringerkuh aus der Nähe begegnet bin, habe ich nicht schlecht gestaunt: Im Vergleich zum Braunvieh, das ich aus meiner Kindheit kenne, sind die schwarzen Walliser Kühe ein völlig anderes Kaliber. Obwohl sie mit 118 bis 128 cm Widerristhöhe nicht die Höchsten sind, haben die Tiere dank ihrer 500 bis 800 kg Gewicht eine beeindruckende Statur. Ihre starken, gebogenen Hörner und ihre dunkle Farbe verleihen den Walliser Originalen fast einen Eindruck von «spanischem Torro». Umso mehr hat mich das Wesen der Eringer erstaunt. Zwar habe ich gewusst, dass es sich nicht um grundsätzlich aggressive Tiere handelt, aber dass die beeindruckenden Kühe lammfromm und zutraulich sind, hätte ich ihnen nicht zugetraut. Natürlich habe ich im Fernsehen manchmal kurze Mitschnitte von Kuhkämpfen gesehen, etwa wenn jedes Jahr im Frühling und im Herbst die Ringkuhkämpfe stattfinden. Aber bis auf ein paar TV-Bilder wusste ich über das Thema Eringer herzlich wenig.

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Ich habe deshalb sofort zugesagt, als sich die Gelegenheit ergeben hat, beim «Zusammenlassen» der Kühe dabei zu sein. Nach den langen Wintermonaten werden die Kühe gegen Ende April zum ersten Mal in der ganzen Gruppe auf die Weide gelassen. Da die Eringer ein überaus starkes Herdengefühl haben, ermitteln die Tiere beim ersten freien Zusammentreffen sogleich die Dominanteste und die Stärkste unter ihnen. Diese übernimmt eine wichtige Rolle im Sozialverhalten der Tiere, besonders, wenn später auf der Alp Kühe von unterschiedlichen Besitzern zusammenkommen. Meist gruppieren sich die einzelnen Herden dann um ihre jeweilige Leitkuh und wer diese herausfordern will, muss es erst mit der übrigen Herde aufnehmen.

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Eringer Kühe haben einen ausgesprochen starken Herdentrieb und setzen innerhalb ihrer Gruppe eine Rangordnung durch. (Bild lja)

Walliser Kulturgut

Obwohl die Eringer eine berggängige Zweinutzungsrasse sind, werden die Tiere im Wallis hauptsächlich aus Liebhaberei gehalten. Sie geben durchschnittlich rund 3200 kg Milch pro Jahr, werden aber oft nur kurze Zeit gemolken. Die «Schwarzen», wie sie im Wallis manchmal genannt werden, sind der ganze Stolz ihrer Besitzer. Das Halten von Eringern ist ein aufwändiges Hobby, das aber nicht nur hauptberufliche Bauern pflegen. Manche halten nur eine bis zwei Eringerkühe und stellen sie bei Bekannten ein. Ringkuhkämpfe, die sogenannten «Stechfeste», sind die Highlights im Jahresablauf von Züchtern und Haltern. Im Frühling und Herbst finden in den Tälern zahlreiche Wettkämpfe statt, während des Sommers messen sich die Kühe auf den Alpen. Schliesslich steht jeden Frühling das «Nationale Finale» an. An diesem Treffen treten die stärksten Kühe gegeneinander an, um die «Reine des Reines» zu ermitteln, die stärkste Kampfkuh der Schweiz.  Zu gewinnen gibt es Kuhglocken, Ruhm und Ehre. Gute Kampfkühe bringen es zu einiger Bekanntheit und sind entsprechend auch in der Zucht begehrt.

Ein wichtiger Tag will gut vorbereitet sein

Ich begleite heute Familie Passeraub aus Niedergampel, Besitzer von neun Eringern unterschiedlichen Alters und Kalibers. Vater Rolf hat zu Beginn der 90er-Jahre eine erste Eringerkuh gekauft und war bald einmal Feuer und Flamme für die Rasse. Seine Begeisterung hat sich allmählich auch auf seine Frau Rafaela und die Kinder Matthias, Katja und Sabrina übertragen. Seither kümmern sie sich alle gemeinsam um ihre Eringer, die fest zur Familie gehören.

Das «Zusammenlassen» ist normalerweise eine gesellige Sache, bei der die Familie, Freunde und spontane Zuschauer stets willkommen sind. Dieses Jahr müssen die Züchter und Halter aber auf Publikum verzichten, denn die Weisungen des BAG gelten auch für landwirtschaftliche Tätigkeiten: Mehr als fünf Personen sind auch beim Zusammenlassen nicht erlaubt.

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Die eigens angelegten Bandagen werden geglättet, um Unfälle zu verhindern. (Bild lja)

Als ich am Morgen in den kleinen Stall trete, sind alle konzentriert bei der Arbeit; man merkt ihnen an, dass heute ein wichtiger Tag bevorsteht. Gerade werden allen sechs Kühen die Hörner eingebunden, um sie in den bevorstehenden Kämpfen zu schützen. Sind die Bandagen angelegt, werden hervorstehende Enden und Kanten sorgsam abgeschliffen und geglättet, um Unfälle zu verhindern.

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Matthias Passeraub konzentriert sich für den letzten Schliff. (Bild lja)

Vor jedem Tier steht bereits seine Glocke, die «Triichjiä», bereit. Die Glocken, anhand derer sich die einzelnen Kühe auch von weitem erkennen, müssen bei Eringern satt angezogen werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich die Tiere beim Stechen in den Gurten verfangen, was böse enden kann. Sobald alle Hörner eingebunden sind und die Kühe das Gewicht ihrer Glocke spüren, kommt Bewegung in den Stall. Die Kühe scheinen spätestens jetzt zu wissen, worum es heute geht.

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Das Anlegen der Glocken ist ein Job für zwei, denn die Gurte dürfen nicht zu viel Raum lassen. (Bild lja)

Sportliche Kühe

Während Katja und Matthias die letzten Vorbereitungen treffen, trete ich mit Vater Rolf ins Freie; wir überqueren die kleine Strasse und stehen vor einer eingezäunten Wiese. «Man kann nie genau wissen, wie sich die Tiere verhalten werden, wenn sie nach langer Zeit wieder ins Freie kommen und in der Gruppe zusammentreffen», meint Rolf und erklärt mir, in welcher Reihenfolge man die Tiere aufeinandertreffen lässt. Zunächst beginnen wir mit den beiden Jüngsten, Pirouette und Arwen, die beide knapp zweieinhalbjährig sind. Den beiden Jungspunden ist anzumerken, wie sehr sie sich freuen, wieder draussen zu sein. Ausgelassen donnern sie über das Feld und wagen übermütige Luftsprünge, laut schnaubend wälzen sie sich im Gras und scharren in der trockenen Erde. Erdklumpen fliegen meterhoch und grosse Staubwolken wirbeln auf. Ihre Besitzer haben indessen das Verhalten der Tiere aufmerksam beobachtet und festgestellt, dass die leicht rötlich gefärbte Pirouette heute sehr selbstbewusst auftritt, während Arwen der Konfrontation zumindest vorerst aus dem Weg geht.

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Auch der Kopf einer Eringerkuh ist ein eindrücklicher Anblick. Wenn sie nicht gerade stechen, sind die Tiere handzahm. (Bild lja)

Unerwarteter Besuch

Schon bald ist der Moment gekommen, um eine dritte Kuh ins Spiel zu bringen. Es folgt der Auftritt der dreieinhalbjährigen Amy, einer «Erschtmälchä», und alle sind gespannt, wie sich die Dynamik unter den Tieren verändern wird. Doch während Amy ohne grosse Ambitionen über die Weide trottet, richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf das Geschehen neben dem Feld: Soeben ist die Walliser Kantonspolizei mit zwei Autos vorgefahren. Aus jedem Fahrzeug steigt ein Uniformierter; beide achten sorgfältig auf den Sicherheitsabstand von zwei Metern – bis sie mit uns ins Gespräch kommen, dann scheint die Regel vergessen. Die Beamten beäugen uns kritisch, zählen den Bestand an Rindviechern und Menschen und ermahnen uns, die erlaubte Zahl von fünf Personen auf dem Platz nicht zu überschreiten. Da bei uns alles vorschriftsgemäss abläuft, setzen sich die Ordnungshüter bald wieder in ihre Autos und ziehen von dannen.

Myrtille gibt Gas

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Da sich die Situation mit den drei Kühen auf der Wiese bislang nicht verändert hat, wird eine vierte dazu gebracht. Myrtille, Jahrgang 2012, ist keine reinrassige Eringerkuh, sondern zur Hälfte Evolèner, eine alte Walliser Kuhrasse. Sie hat mehrere weisse Zeichnungen, unter anderem einen grossen, hellen Fleck auf ihrer Flanke, der wie eine Null geformt ist. Scherzhaft nennen Passeraubs die Kuh deshalb «das Nulli». Myrtylle ist aber keineswegs eine Null: Sie hat an einem Qualifikationskampf schon eine Glocke gewonnen und ist eine erfahrene Kämpferin. Nach wenigen Augenblicken lässt sie sich schon auf ein erstes Kämpflein mit einer ihrer Stallgenossinnen ein, die prompt vor dem ambitionierten Neuankömmling zurückweicht. «Jetzt geht es also los», denke ich mir und bin gespannt, was nun passiert.

Nun, da Myrtille die Situation gehörig aufmischt, kommen die Treiber zum Einsatz. An den offiziellen Wettkämpfen stehen immer mehrere sogenannte «Rabatteure» auf dem Platz. Ihre Rolle ist sehr wichtig, denn sie müssen gewährleisten, dass jeweils nur zwei Kühe gegeneinander antreten. Eine Dritte, die sich einmischen würde, könnte den beiden Kämpfenden schlimme Verletzungen zufügen. «Schwere Verletzungen sind sehr selten, da die Rabatteure gut achtgeben und wir Halter allerlei Vorkehrungen treffen», erklärt mir Rolf. «Ausserdem sind Eringer meist faire Sportsfrauen», fährt er fort. «Am schönsten ist es, wenn Du eine Kuh hast, die wartet, bis sie an der Reihe ist und die nach einem gewonnenen Kampf souverän stehen bleibt. Kühe, die einer Verliererin hinterlistig nachstechen, sind nicht so gerne gesehen. Da musst Du dann als Halter schauen, dass Du ihr solche Flausen möglichst austreiben kannst.»

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Pirouette will nicht von der stärkeren Myrtille ablassen und fordert sie immer wieder heraus. (Bild lja)

In der Zwischenzeit hat Myrtille sich mit allen anderen Kühen auf der Wiese gemessen. Während Arwen und Amy eingesehen haben, dass sie «keinen Stich» gegen Myrtille haben, will es die rötliche Pirouette immer wieder aufs Neue wissen und tritt mehrfach gegen Myrtille an. Das erfahrene «Nulli» wehrt die Versuche ihrer viel jüngeren Stallgenossin aber mal um mal erfolgreich ab. Die übrigen Kühe grasen friedlich oder kommen ans Gatter, um sich streicheln zu lassen. Pirouettes Kampfgeist freut Familie Passeraub: «Ich glaube, da steckt noch einiges in der jungen Dame», lacht Matthias, «das ischt än rächtä rootä Tiifil!». Schliesslich ermattet der Kampfgeist des Tiers für den Moment und Passeraubs gönnen den Tieren ein paar Augenblicke Ruhe, bevor die nächste Kuh zur Gruppe gelassen wird.

Die Grossen sind an der Reihe

Nun ist die fünfte Kuh an der Reihe, Katjas Liebling Amara, geboren 2014. Sie ist die heutige Favoritin, denn sie ist in Topform und bringt ein stattliches Gewicht auf die Waage. Letztes Jahr hat sie sich als die Stärkste im «Truppeau» erwiesen und die Rolle der Leitkuh übernommen. Entsprechend souverän geht Amara aus den folgenden Kämpfen hervor. Nur die forsche Pirouette und die dominant auftretende Myrtille lassen sich auf ein Stechen ein und beide müssen einsehen, dass sie gegen die viel schwerere Amara wenig ausrichten können.

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Wer nicht gerade sticht, macht eine Verschnaufpause um zu trinken oder zu grasen. (Bild lja)

Schliesslich führt Rolf Ares in den Ring; sie ist die älteste Kuh in Passeraubs Stall und ist bis zum letzten Jahr die Leitkuh gewesen. Da sie im letzten Jahr nicht gekalbt hat, hat sie Reserven angelegt und wiegt im Moment über 800 Kilo. Alle sind gespannt, ob Ares, die den Namen des griechischen Kriegsgottes trägt, ihrer Rolle als Leitkuh auch dieses Jahr gerecht wird oder ob Amara die Dominanteste ist. Nachdem Ares einige Vorstösse der nimmermüden Pirouette abgewehrt hat und auch das «Evolènerchen» Myrtille seine Chance bekommen hat, ist es so weit, Amara und Ares gehen in Kampfstellung. Aber die beiden schweren tiere stechen nur wenig motiviert, es scheint fast, als ob sie sich nicht so recht zum Kampf entschliessen wollen. Katja sieht ihre Amara aber noch immer in der Favoritenrolle: «Dass die beiden im Moment nicht stechen wollen, macht gar nichts und man muss sie auch nicht dazu drängen. Wahrscheinlich passiert es später auf der Weide.»

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Obwohl Pirouette (rechts) gerne noch ein wenig stechen würde, lässt sich ihre Stallgenossin nicht beeindrucken. (Bild lja)

Alle sechs Kühe grasen nun friedlich auf der Wiese, es ist Ruhe eingekehrt. Mit seinem Stock putzt Rolf den Tieren den Staub vom Rücken, bevor Katja und Matthias ihre Verletzungen – alles kleinere Kratzer und Schürfungen – mit Desinfektionsspray verarzten. Ich staune während der ganzen Prozedur erneut über die Gelassenheit der Eringer, die kaum mit der Wimper zucken, wenn das orangefarbene Spray sie trifft. Seelenruhig lassen sie die Behandlung über sich ergehen.

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Fast wie bei den Schwingern: Nach bestandenen Kämpfen putzt Rolf seinen Kühen den Rücken ab. (Bild lja)

Der Tag neigt sich nun langsam seinem Ende zu und die Tiere können in ihr nächstes Quartier gebracht werden. Im Handumdrehen haben Passeraubs den Tieren Halfter umgelegt und ehe ich begreife, was passiert, drückt mir Rolf einen Strick in die Hand. «Wir verschieben zu Fuss. Du kommst doch sicher klar mit Pirouette, oder?», sagt er und lacht. Ausgerechnet Pirouette, das rote Teufelchen, drücken sie mir in die Hand! «Easy, easy» lache ich und streichle dem Tier über den Kopf. Dabei weiss ich nicht so genau, ob ich die Kuh oder mich selbst beruhigen will. Bevor ich mir weitere Gedanken machen kann, geht es los. Rolf geht mit Ares voran und Katja führt Amara, die sich brav einreiht. Dann folgen die übrigen Tiere in der Reihenfolge, die sie heute miteinander ausgefochten haben.

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