Die ersten zwei Tage in Uschhorod folgen einem einfachen und eingespielten Muster: Aufstehen, Frühstück, Auto laden, losfahren. Dann Halt an allen möglichen und unmöglichen Stellen: am Strassenrand, bei Häusern und Hütten in Uschhorod und den umliegenden Dörfern. An jedem Halt spenden Murri und seine Helfer einen Moment Zeit, einen Essenssack und etwas Geld. Sie hören zu, fragen nach, verabschieden sich und fahren weiter.

Der dritte Tag allerdings ist anders. Um 5:20 Uhr sitzen Murri und seine zwei Helfer schon am Frühstückstisch. Sie trinken Kaffee und essen etwas Brot, Joghurt und Käse. Um 5:45 Uhr fährt Murri los. Sein Ziel: Vilshany, gut 200 Kilometer landeinwärts. Dort will er in der psychiatrischen Klinik und im benachbarten Kinderheim Schokoladen verteilen.

Vor dem Besuch in Vilshany macht Murri aber noch einen Halt im «Eisenbahnschwellenhaus», bei Joseph und Mariana und Sohn Luca. Insgesamt leben sieben Menschen in der kleinen aus blau angemalten Eisenbahnschwellen gezimmerten Hütte. Es gibt kein fliessend Wasser, keine Toilette und keinen Strom. Dafür wärmt ein kleiner Kachelofen den Raum auf eine akzeptable Temperatur. Das grosse Fenster lässt das fahle Tageslicht in den mit Teppichen ausgekleideten Raum fallen. Peter Murri sitzt auf dem Bett von Joseph und hält seine Hand.

Joseph hat starke Kopfschmerzen, kalte Hände und konnte den ganzen Tag nicht aufstehen. Schuld daran sei ein Hirntumor, sagt Murri. «Dabei hat es das letzte Mal so gut ausgesehen», seufzt er. Beim letzten Besuch sei Joseph schon am Arbeiten gewesen. Jetzt ist das nicht möglich. Murri sieht Joseph in die Augen, lässt seine Hand los und steht mühsam auf, sagt Mariana und Sohn Luca Adieu und verlässt das Zimmer.

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In Vilshany liegt Schnee, die Hängebrücke ist vereist. Murri stapft auf seine Stöcke gestützt langsam voran, während seine Helfer noch die Schokoladen aus dem Auto nehmen und Murri folgen.

In der psychiatrischen Klinik geht Murri von Zimmer zu Zimmer. Er sagt Hallo, beobachtet, wie die Schokolade verteilt wird. Er freut sich an der Freude der Patienten und der Direktorin. Manche der Patienten erinnern sich an Murri, klopfen ihm auf die Schulter und freuen sich schon jetzt auf den nächsten Besuch. «Da bin ich jedesmal wie gerädert», sagt Murri nach gut zwei Stunden. Er schüttelt den Kopf, stützt sich auf seine Krücke und läuft weiter, zur Küche. Dort will er  vor dem Mittagessen noch kurz reinschauen.

Die Direktorin der psychiatrischen Klinik heisst Irene und freut sich über Murri's Besuch. Sie sagt über seine Hilfe: «Die Menschen hier erinnern sich immer wieder an Peter. Und für sie ist es sehr speziell. Denn Peter tritt nicht als Pfleger, sondern einfach als Mensch auf. Das gibt ihnen ein gewisses Selbstwertgefühl.» So ist es für das Klinikpersonal selbstverständlich, für die Dauer von Murri's Besuch das ganze Tagesprogramm anzupassen und die Patientinnen und Patienten vorzubereiten. Selbst das Mittagessen wird erst serviert, als wir mit dem Schokoladenverteilen fertig sind.

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Um 16:20 Uhr stapft Murri wieder durch den Schnee, zur Hängebrücke. Er hat sich von Irene verabschiedet und will nun weiter, ins Kinderheim. Es dämmert schon, als Murri den Bus abstellt und aussteigt.

Peter Murri verabschiedet sich. «Ich bin müde», sagt er und verlässt den grossen Korridor. Er stapft auf seine Stöcke gestützt durch den Schneematsch, während in ihrem langsamen Tanz die Schneeflocken vom dunklen Himmel fallen. Er wird dabei von dutzenden Kinderaugen beobachtet, die hinter den Fenstern des u-förmigen Gebäudes dem langsamen Mann aus der Schweiz folgen. Noch ist nicht alle Arbeit getan, aber Murris Rücken schmerzt. Der 73-Jährige hievt sich auf den Fahrersitz seines VW-Bus, lehnt sich zurück und atmet tief durch.

Der pensionierte Meisterlandwirt Peter Murri ist mit seiner Stiftung «EstherDebora» für viele Familien so etwas wie der Weihnachtsmann. Doch der Weihnachtsmann ist müde. Im Kinderheim liegt es nun an Manfred Dessler, der Übersetzerin Timea Pesko und ihren Kolleginnen, die Schokolade fertig zu verteilen. Aus dem Kofferraum nehmen sie die weissen Säcke mit der Schokolade drin und folgen der Betreuerin.

Nachdem die Schokolade auch im zweiten Gebäude verteilt ist, fahren wir wieder zurück, nach Uschhorod. Nach den ersten Kilometern hält Murri am Strassenrand an. «Es will nur noch schlafen», sagt er und überlasst dem Schreibenden das Steuer. Es dauert keine fünf Minuten, bis Murri auf dem Beifahrersitz einnickt. Die Schlaglöcher spürt Murri nicht mehr. Den Lärm der Fahrt hört er nicht.

Zwei Tage später: Murri sitzt in der letzten Reihe. Vor ihm bestaunen achtzig Kinder den weissen Nebel von verdampfendem Flüssigstickstoff. Murri lächelt zufrieden und beobachtet still das Treiben. Neben ihm sitzen Luda Onysko, die zweite Übersetzerin, sowie Manfred Dessler und Andreas Frösch. Die Sonne wärmt die Gesichter und manchem auch das Herz. Und für eine Stunde ist alles so weit weg: Die nur schemenhaft funktionierenden Institutionen und die düsteren Aussichten der Waisenkinder, die praktisch jeder Aussicht auf Erfolg beraubt wurden.

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Murri leidet still mit und will etwas für die Menschen tun. Und als dann am Ende der Vorstellung Murri’s Gehilfen die weissen Beutel mit Schokolade, Apfel, Banane, Mandarine, Orange und Gebäck verteilen, regiert für einen kleinen Augenblick die Freude.

Peter Murri ist es recht, wenn er nicht zu sehr im Vordergrund steht. «Ich bin nicht so wichtig», sagt Murri auf der ganzen Reise mehrmals. Den Himmel, den könne er sich sowieso nicht verdienen. Das erklärt Peter auch, als er in der Krebsklinik von Uschhorod steht.

Das vorübergehend gut gefüllte Lager: In der Garage der Familie Petryschyn hat Murri alles vorbereitet, um möglichst vielen Menschen helfen zu können.WeihnachtsgeschichteTeil 1: «Der Herr gibt es. Der Herr nimmt es»Sonntag, 24. Dezember 2017

Peter Murri bei einer der vielen Begegnungen in der Ukraine. Für viele Menschen ist der pensionierte Meisterbauer aus dem Emmental so etwas wie der Weihnachtsmann. WeihnachtsgeschichteTeil 3: «Sicher ist nur, dass ich nächstes Jahr noch fahren werde»Dienstag, 26. Dezember 2017