Peter Murri drosselt plötzlich das Tempo und bringt seinen VW-Bus zum Stehen. Er schaut nach rechts, dann nach links, macht kurz Licht. «Ohne das kann ich nicht gehen», seufzt er. Auf der Rückbank sitzen Andreas Frösch und der Schreibende. Peter Murri sucht seine Krücken. «Sie sind hinter uns, auf der Rückbank», sagt Frösch. «Gott sei Dank!», sagt Peter Murri, löscht das Licht und fährt weiter.

Ohne die Stöcke kann Murri schlecht in die Ukraine fahren. Er hat Rückenprobleme, die ihm langes Stehen verunmöglichen.

In Arni BE steigt Manfred Dessler dazu, danach steuert Murri den schwer beladenen Bus in Richtung Autobahn. Am 5. Dezember um 00.45 Uhr beschleunigt er auf 120 Stundenkilometer und fährt bei Burgdorf BE auf die A1. Das Ziel der Fahrt ist die knapp 1500 Kilometer weiter östlich gelegene Stadt Uschhorod im Westen der Ukraine.

Gefahren wird abwechslungsweise; zuerst fährt Peter Murri, dann Manfred Dessler, dann der Schreibende, wieder Dessler, wieder der Schreibende, Andreas Frösch. Auf einer Autobahnraststätte gibt es ein kurzes Frühstück, in Wien (A) ein Zwischenhalt. Mehr nicht.

Murri und sein Team haben keine Zeit zu verlieren, sie wollen so schnell wie möglich die vielen Kilometer hinter sich bringen. Denn in der Westukraine wartet viel Arbeit auf sie. Sie müssen in acht Tagen etwa 600 Schokoladen, dutzende von Essenspaketen und Weihnachtsgeschenken verteilen.

Murri ist Präsident und Geschäftsführer der Stiftung «Esther Debora», pensionierter Landwirt mit Meisterdiplom und so etwas wie der Weihnachtsmann aus dem Emmental. Im Kofferraum stapeln sich Koffer, Geschenke und Kleider, die an Bedürftige abgegeben werden sollen.

Murri kennt die Strecke, fährt noch viermal im Jahr von Signau BE nach Uschhorod (UA) und wieder zurück. «Ich muss es etwas ruhiger angehen», sagt er bei einer Pause wenige Tage später. Früher fuhr er noch sechs- bis achtmal im Jahr durch die Nacht.

Angefangen hat alles vor gut zwanzig Jahren. Einem Bekannten half Murri als Fahrer. Er fuhr Juden, die nach Israel ausreisen wollten, und eine günstige Transportmöglichkeit suchten. Peter Murri erzählt ungern davon, betont aber, dass alles und zu jeder Zeit absolut legal und transparent war. Murri und sein Kollege fuhren schlicht zu tieferen Kosten als das die öffentlichen Verkehrsmittel taten bzw. tun.

«Als ich dann in die Ukraine kam, sah ich, dass man noch mehr machen könnte, dass es da noch viele arme Menschen hat.» Und diesen Menschen wollte Peter Murri helfen. Er begann, auf dem Hinweg Esswaren, Kleider und Schuhe mitzunehmen und in der Ukraine zu verteilen. «Das eine führte zum nächsten, und es wurden immer mehr.» Murri lächelt. Seine Hilfe wurde geschätzt und er konnte direkt mit den Menschen in Kontakt treten.

Der Emmentaler Landwirt, der am 8. Dezember 1944 zur Welt kam und seit 53 Jahren mit der gleichen Frau verheiratet ist, entdeckte zehn Jahre bevor er in den Ruhestand treten würde, seine Berufung. Oder wenigstens einen Teil davon; ein weiterer Teil der Berufung gehört Gott, doch dazu später mehr. Dass aus dem ersten Impuls, helfen zu wollen, ein Hilfswerk entsteht, das jedes Jahr 250 Familien unterstützt, war so nicht geplant.

Der Ursprung von «Esther Debora» war ein tödlicher Unfall. Murris Tochter Esther wurde Opfer eines Verkehrsunfalls. «Der Herr gibt es, und der Herr nimmt es.» Murri seufzt tief, als er die Geschichte noch einmal erzählt. Auch fünfundzwanzig Jahre später erfüllt Esthers Tod sein Herz mit Trauer. «In der ersten Nacht haben wir niemandem vom Unfall erzählt. Wir wollten für uns alleine sein.» Damals reifte der Entschluss, trotz Esthers Tod etwas zurückzugeben. Vater und Bruder des Unfallverursachers verpachtete die Familie später den Hof, mit dem Geld, dass von der Versicherung des Fahrers noch ausgezahlt wurde, gründeten Murris die Stiftung «Esther Debora». Der Unfall, die Trauer: Vergeben, aber nicht vergessen.

Die Fahrt von Signau nach Uschhgorod verläuft ruhig. Nach einem Zwischenhalt in Wien und mehreren Pinkelpausen erreichen wir den Grenzübergang zur Ukraine. Unterwegs treffen wir Übersetzerin Luda, die uns über die Grenze bringt. Sie ist eine von zwei Frauen, die Peter Murri vor Ort unterstützen. Sie hat für uns auch die Unterkunft bei der Familie Petryschyn organisiert, die am Stadtrand von Uschhorod in einem hübschen Haus wohnt.

Es ist 19.30 Uhr, als Peter Murri seinen Bus abschliesst. In der Garage von Petryschyns stapeln sich die von Luda gekauften Essenspakete, die aus der Schweiz mitgebrachten Koffer und Geschenke. In der warmen Stube wartet schon das Nachtessen.

19 Stunden hat es gedauert, um von Signau BE nach Uschhorod zu fahren. Peter Murri faltet seine Hände: «Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise.» Murri blickt auf, lächelt schelmisch und fügt an: «Und danke, hast du uns so gut über die Grenze gebracht; Amen.»

Das Schicksal der Waisenkinder, die er in der Ukraine besucht, macht Peter Murri zu schaffen. (Bild Hansjürg Jäger)WeihnachtsgeschichteTeil 2: «Ich bin nicht so wichtig»Montag, 25. Dezember 2017

Murri's Reiseprogramm

4. Dezember, 23.30 Uhr Abfahrt in Signau

5. Dezember, abends Ankunft in Uschhorod

6. Dezember, Besuch von Klienten in der Stadt

7. Dezember, Besuch eines Asylantenheims in Mukachevo

8. Dezember, Besuch der psychiatrischen Klinik und eines Kinderheims in Vilshany

9. Dezember, Besuch Krebsspital in Uschhorod

10. Dezember, Weihnachten im Kinderheim von Veliki Peresni

11. Dezember, Besuch von verschiedenen Klienten in Vinograd und Toura-Bistra

12. Dezember, Besuch von verschiedenen Klienten in Vinograd und Toura-Bistra

13. Dezember, Besuch einzelner Klienten in Uschgorod-- NO IMAGE

13. Dezember, 22.40 Uhr Abfahrt in Uschhorod

14. Dezember, 18 Uhr Ankunft in Burgdorf