„Jetzt singen wir noch eins“, sagt Meinrad Koch vor der Hütte auf der Alp Seewis. Die letzten Vorbereitungen für die Alpabfahrt, das Öbere- oder Abefahre, wie es im Appenzeller Dialekt heisst, sind getroffen. Die fünf Söhne sowie Helfer aus Verwandt- und Nachbarschaft haben sich in der Hütte die festlichen Sennenkleider angelegt und Maria, Meinrads Frau, hilft den jungen Leuten, dass Kleider, Schuhe und Hut richtig sitzen. Gegen 10 Uhr geht es los.

Manche wollen nicht ins Tal

Die Spitze des Zuges übernehmen die Geissen, angeführt von Benjamin, dem jüngsten Sohn von Familie Koch, in seiner Sennentracht und mit Fahreimer über dem linken Rücken. Zusammen mit seinem Schulkollegen Dario und mit Andrea ist er für die Geissenherde verantwortlich. Es folgen zwei Sennen. Sie tragen die Senntumsschellen an den sogenannten Schellenstecken quer über der Schulter. Jeden Schritt setzen sie bedächtig, damit die Schellen im Rhythmus klingen. „Die Schellen sind aufeinander abgestimmt“, sagt Dominik. Ihre Klänge müssen harmonisch sein. Dann kommen die Kühe und Rinder. Nicht alle Tiere machen sich gerne auf den Weg. Das Treiben passt nicht in ihren Tagesablauf und sie geben die Freiheit auf der Alp nicht gerne auf. Die Sennen und die Springbuben, die jugendlichen Helfer, müssen immer wieder Kühe zur Herde treiben, die nicht mit wollen.

Tiere spüren es im Voraus

Am Schluss der Herde geht Meinrad, der Besitzer der Alp mit seinem Appenzeller Hund Zita. Er hat von hinten den Überblick und gibt Sennen und Springbuben immer wieder Anweisungen. Zuerst geht es vom Sämtisersee nach oben zur Alp Soll, wo die Milch täglich zu Alpkäse verarbeitet wird. An der Hütte und dem Stall vorbei in Richtung Ruhesitz, dem Berggasthof unterhalb des Hohen Kastens. Auf dem Weg dorthin kommen noch andere Kühe dazu, die sich schon früher auf den Weg gemacht haben. „Sie wissen, dass es heute von der Alp geht“, sagt Dominik. Nicht dass sie das Datum kennen, aber sie spüren es aus dem Verhalten der Menschen. Die meisten Tiere sind schon öfters auf der Alp gewesen und kennen den Ablauf. Die Alpabfahrt am 23. August ist dieses Jahr eine Woche früher als sonst, denn der viele Regen hat den Boden aufgeweicht und die Klauen der Kühe machten viele Trittschäden auf der Weide.

„Es geht erst richtig los“

Auf der Strasse zum Ruhesitz gehen die Kühe als geschlossene Herde und bilden eine Kolonne. Zusammen sind es 37 Kühe, 20 Rinder und 19 Geissen. „Sie sind ruhig geworden. Das Schlimmste dürfte geschafft sein“, meint einer der Fotografen. „Jetzt geht es erst richtig los“, widerspricht Samuel, der Alpsenn, der für das Käsen verantwortlich ist. Der grösste Teil des Weges liegt noch vor der Herde. Zuerst auf dem Bergweg hinunter nach Brülisau, dann auf der Hauptrasse nach Appenzell und von dort nach Gonten zum Hof von Familie Koch. Das macht zusammen etwa 20 km, welche Mensch und Tier in etwa viereinhalb Stunden zurücklegen. Unterwegs bieten Wirts- und Privatleute den Sennen und ihren Helfern immer wieder etwas zum Trinken an. Es scheint, der Himmel wolle die Alp-Gemeinschaft mit strahlendem Sonnenschein für die vielen nassen Tage entschädigen. Das Abefahre ist nicht einfach ein Spaziergang. Die Sennen tragen schwer an den Schellen, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen. Benjamin, der jüngste Senn, kämpft immer wieder mit seiner Kleidung. Er ist schon wieder aus seiner Sennentracht herausgewachsen. Doch klagen liegt ihm fern; es muss einfach gehen.

Glückwünsche begleiten den Zug

Kurz vor Brülisau hält der Zug und die Sennen legen den Kühen die Schellen an. Auch für sie sind die Schellen schwer; doch sie haben ebenfalls ihren Stolz. Manch ältere Kuh warte darauf, dass man sie ihr anlege, erzählt Meinrad. Die Senntumsschellen sind für die Sennen wertvolle Schmuckstücke, auf die sie gut achtgeben. Während die Sennen die Schellen anlegen, holt Samuel die Ledi, den Wagen mit dem traditionellen Käsegeschirr. Die Ledi, gezogen von Samuel‘s Pferd Alexandra bildet den Abschluss des Zuges. Meinrad ist mit ihr und den Sennen schon morgens um halb sieben von Gonten nach Brülisau gefahren und hat dort das Sennengeschirr aufgeladen.

Die Alpabfahrt ist ein Freudentag

„I wösch Glück“, hört man Zuschauer und Bekannte der Sennen immer wieder rufen. Der Alpabzug wird selbst von den Autofahrern akzeptiert, die oft längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Auch wenn die Appenzeller ihre Traditionen bewahren, sind sie doch offen für Neues. So fällt dem jungen Senn Dario beim Alpabzug das Schild „Kickboard zu vermieten“ auf. Das wäre doch etwas für sie als Sennen, denn damit wären sie noch schneller, um ihre Tiere zusammenzuhalten. Um halb drei Uhr treffen alle müde, aber wohlbehalten auf dem Webernhof in Gonten ein. „Die Alpabfahrt ist für uns ein Freudentag“, sagt Meinrad. Er, seine Familie und seine Sennen sind dankbar, dass sie wieder heil und gesund zu Hause sind.

Michael Götz