AboEssiggurken, Brot und Käse – das gibt es heute schon alles aus der Schweiz. Bei Kaffee oder Kakao wird das aber kaum je der Fall sein. (Bild jsc)SelbstversorgungsgradWarum ein hoher Selbstversorgungsgrad nicht nur gut ist und wie er effektiv gesteigert werden kannMontag, 15. März 2021 Ein hoher Selbstversorgungsgrad (SVG) vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und Unabhängigkeit, er ist aber nicht umsonst zu haben. Das zeigt auch die Analyse von Agristat, dem statistischen Dienst des Schweizer Bauernverbands (SBV). Autor Daniel Erdin hat sich mit der Initiative «für eine sichere Ernährung» auseinandergesetzt, für die noch bis Mitte Dezember 2024 Unterschriften gesammelt werden können und die einen Netto-Selbstversorgungsgrad (N-SVG) von 70 Prozent anstrebt. «Rein rechnerisch mittelfristig möglich», so Erdins Fazit. Die Schweizer Landwirtschaft wäre aber eine andere.

Zusätzliche 140'000 ha

Um den N-SVG zu erhöhen, müsste die pflanzliche Produktion ausgeweitet werden. Würden die zur Futterproduktion verwendete offene Ackerfläche umgenutzt und zusätzlich 20 Prozent der Kunstwiesenflächen zur direkten Nahrungsmittelproduktion genutzt, ergäbe dies laut Agristat eine Fläche von 140'000 ha. Um die damit einhergehende Reduktion der tierischen Produktion um geschätzte 10 Prozent der zuvor in Form von Fleisch, Eier und Milch bereitgestellten Kalorien zu kompensieren, müssten Zuckerrüben, Kartoffeln, Weizen und Raps auf den neuen Feldern stehen. Es handelt sich dabei um Kulturen mit relativ hohen Flächenerträgen in punkto Kalorien. Dieses Mass ist für den SVG entscheidend, denn er beruht auf Kalorien und nicht auf einer ausgewogenen Ernährung mit den richtigen Nährstoffen.

Spielt der Markt mit?

Wegen tieferen Erträgen und Kalorienmengen wäre der Anbau von Leguminosen als Ausgleich für weniger tierische Produkte aus Sicht des SVG weniger zielführend. Aber auch bei der Ausdehnung der oben genannten Kulturen sieht Daniel Erdin Hürden:

Markt: Regelmässig muss Weizen zu Futter deklassiert werden, denn der Markt will die Ware nicht übernehmen. Stattdessen werden verarbeitete Produkte wie Teiglinge eingeführt. Auch der Kartoffel-Markt präsentiere sich weitgehend gesättigt.

Wirtschaftlichkeit: Sie ist insbesondere bei Zuckerrüben ein Knackpunkt.

Verarbeitung und Absatz: Fraglich für Schweizer Körnerleguminosen und insbesondere deren Zwischenprodukte aufgrund fehlenden Grenzschutzes.

Kaum neue Möglichkeiten

Bäuerinnen und Bauern sorgen für Versorgungssicherheit. Aber alles lässt sich in der Schweiz nicht produzieren. (Bild ji)SelbstversorgungsgradWie könnte man den Selbstversorgungsgrad der Schweiz erhöhen – und sollte man das tun?Samstag, 26. Dezember 2020 Mit der wachsenden Bevölkerung nimmt auch der Bedarf an Lebensmitteln zu. Trotzdem ergeben sich dadurch für die Schweizer Landwirtschaft kaum neue Produktionsmöglichkeiten, führt Agristat aus. Der Mehrbedarf werde vor allem durch Importe gedeckt, zunehmend von verarbeiteten Produkten. Um dies zu ändern, bräuchte es entsprechende Kapazitäten zur Verarbeitung im Inland. Lockend billige Import-Rohstoffe, Schwierigkeiten beim Ausloben von Schweizer Zutaten in verarbeiteten Produkten und eine billigere Herstellung im Ausland sprechen dagegen, dass Unternehmen diesen Weg gehen.

Importe einschränken

Angesichts einer gesteigerten Inlandproduktion müssten im Szenario eines N-SVGs von 70 Prozent die Importe – ebenfalls in Kalorien gerechnet – um etwa die Hälfte sinken. Dies, um am Markt den nötigen Platz zu schaffen für die neuen Schweizer Produkte. «Wie dies im Hinblick auf WTO-Bestimmungen und bilaterale Handelsabkommen machbar ist, kann an dieser Stelle nicht abschliessend beantwortet werden», schreibt Daniel Erdin. Sicherlich wären aber grössere Eingriffe in den Aussenhandel nötig oder aber es müssten vermehrt inländische Nahrungsmittel exportiert werden. Für Letzteres bräuchte es indes Beiträge vonseiten Produzenten oder Bund, um Exporte in grösserem Umfang zu ermöglichen.

Ernährungstechnisch möglich

Und was würden Konsumentinnen und Konsumenten zum Umbau der Schweizer Produktion zugunsten eines höheren N-SVG sagen? Ernährungstechnisch könnte der Konsum von tierischem Eiweiss theoretisch ohne Nachteile reduziert werden, befindet er sich heute doch über den Empfehlungen der Schweizer Lebensmittelpyramide. Zu beachten wäre allenfalls die Versorgung mit Mineralstoffen und Vitaminen, dazu äussert sich Agristat aber nicht abschliessend. Dafür stellt der statistische Dienst klar in Frage, ob alle Konsument(innen) den drastischen Wechsel der Ernährungsgewohnheiten innert kurzer Zeit akzeptieren würden. Denn die Initiative für eine sichere Ernährung verlangt eine Umsetzung innert 10 Jahre nach einer möglichen Annahme des Volksbegehrens. Anhand des Anteils Stimmberechtigter in der Bevölkerung rechnet Daniel Erdin vor, dass rund ein Sechstel für alle anderen entscheiden würde. Ausserdem besteht die Gefahr, dass Massnahmen für eine Umstellung des Ernährungsstils via Einkaufstourismus umgangen werden.

Den Strukturwandel beschleunigt

Neben den erwähnten Absatzschwierigkeiten, die aus heutiger Sicht bei einer vermehrten pflanzlichen Produktion in der Landwirtschaft zu erwarten wären, dürfte die Wirtschaftlichkeit für die Betriebe zur Herausforderung werden. «Es ist nicht sicher, ob allfällige Mehrerträge aus dem Pflanzenbau Verluste in der Tierproduktion kompensieren können», so Daniel Erdin. Hier kommt es aber wahrscheinlich auch auf die Agrar- und Grenzschutzpolitik an, die ihrerseits die Rentabilität der Kulturen und die Nachfrage beeinflussen.

Als weitere mögliche Folge des Produktionsumbaus nennt die Analyse eine Beschleunigung des Strukturwandels. Reine Ackerbaubetriebe brauchten für ein vergleichbares Einkommen mehr Fläche als Betriebe mit intensiver Nutztierhaltung, so die Begründung. Um teure Anlagen und Gebäude für die Tierhaltung amortisieren zu können, bräuchte es zudem lange Übergangsfristen vor der vollumfänglichen Umsetzung der Initiative.

Keine Massnahmen zu Food Waste

Auf das Ziel der Initiative hinzuwirken, wäre demnach mit einem massiven Umbau verbunden. Die einfachste Methode zur Erhöhung des N-SVG lässt der Vorstoss aber ausser Acht: Eine Reduktion des Food Waste um 10 Prozent würde ihn um 11 Prozent steigern, hält Agristat fest. Ausserdem würde der ökologische Fussabdruck der Ernährung gleichzeitig reduziert. Da die Food-Waste-Reduktion allerdings nicht primär zulasten der Importe gehen würde, stelle sich die Frage, ob angesichts eines solchen Minderverbrauchs der Absatz aller Landwirtschaftsprodukte überhaupt noch gesichert wäre.

«Angesichts der Entwicklung der letzten Jahre wird die Landwirtschaft die pflanzliche Produktion mit oder ohne Initiative verstärken müssen, wenn der SVG nicht weiter sinken soll», schreibt Daniel Erdin. Das sei im grösseren Stil aber nur mit politischer Unterstützung möglich und Erdin geht davon aus, dass für den Umbau des Ernährungssystems deutlich mehr als 10 Jahre nötig sein werden.

 

Sichere ErnährungNeue Initiative betrifft vor allem Geflügel- und SchweinehalterDienstag, 13. Juni 2023Selbstversorgungsgrad und mehr als Ziel

Die Initiative «für eine sichere Ernährung» stammt von Franziska Herren, die von der abgelehnten Trinkwasser-Initiative bekannt ist. Sie umfasst neben dem Streben nach einem Netto-Selbstversorgungsgrad von 70 Prozent weitere Punkte, etwa die Einhaltung der Umweltziele im Bereich Stickstoff und Phosphor und eine «auf den Markt ausgerichtete und zugleich nachhaltige, klimabewusste Land- und Ernährungswirtschaft». Für die Zielerreichung ist eine Frist von 10 Jahren vorgesehen, die nötigen Anpassungen in der Landwirtschaft sollen sozialverträglich ausgestaltet und vom Bund finanziell unterstützt werden. Unterschriften können gesammelt werden bis Mitte Dezember 2024.