In Tiefencastel trafen sich kürzlich über 130 Personen an einer vom Bauernverein Albula organisierten In­f­or­mationsveranstaltung zur Wolfssituation in Graubünden. Anwesend waren Vertreter vom Amt für Jagd und Fischerei (AJF), vom Planta­hof und vom Bündner Bauernverband (BBV). 

Die Wolfspopulation wächst weiter

Arno Puorger vom AJF ist der zuständige Mann für die Grossraubtiere in Graubünden. Über seinen Tisch geht praktisch alles, was mit dem Wolf, Bären oder Luchs zusammenhängt. Er bestätigte, was die Anwesenden bereits ahnten oder gar wussten: Im Raum Albulatal-Lenzerheide-Surses gibt es drei Wolfsrudel (Muchetta, Lenzerhorn und Calderas). Zudem ist im oberen Surses ein einzelner Wolf unterwegs und im Raum Davos ein weiteres Wolfspaar. Man rechnet hier mit rund 40 Tieren, also einer gros­sen Wolfsdichte.

Obwohl es immer wieder Abgänge gibt, wächst die Population pro Jahr um rund 30 Prozent. Dass mehr Wölfe auch mehr Tiere reissen, liegt auf der Hand. Das heutige Jagdgesetz aus dem Jahre 1986 wurde zu einer Zeit verfasst, als hier noch keine Wölfe ansässig waren.

Massnahmen nur bedingt zumutbar

Heute hat sich die Situation geändert, doch die Gesetzgebung hinkt der Realität hinterher. Langsam ändert sich etwas, denn ab Sommer 2024 sollte es grundlegende Änderungen im Umgang mit Wölfen geben. 

Für den Schutz von Schafen, Ziegen und Rindvieh gibt es verschiedene vorgeschriebene Herdenschutzmassnahmen, welche mit Geldern von Bund und Kanton sowie Beratung des Planta­hofs unter der Leitung von Batist Spinatsch unterstützt werden. Nur geschützte Tiere, welche vom Wolf gerissen werden, werden entschädigt. 

Nutztiere können durch verschiedene Zaunarten oder Herdenschutzhunde geschützt werden. Allerdings ist es nicht überall möglich, Zäune aufzubauen. Zudem wird das Wild ­erheblich in seinem Bewegungsraum eingeschränkt und Her­den­schutzhunde sind ein Konfliktpotenzial mit Touristen, Wanderern und Bikern. Nachtpferche für Schafe sind mit ­grossem Mehraufwand verbunden, ausserdem werden Krankheiten so einfacher von Tier zu Tier übertragen. 

Wolfswehren werden aufgebaut

Mit Tafeln und Informationen will man versuchen, Konflikte zwischen den verschiedenen Interessengruppen auf den Alp-, Gemeinde- und Privatweiden möglichst zu vermeiden. Muttertiere schützen ihre Jungen, für sie ist ein Wolf oder ein Hund ein Aggressor, ein Raubtier. Friedliche Muttertiere können zum Angriff übergehen – zum Teil mit verheerenden Folgen. 

In Graubünden sei man sich der Problematik bewusst und suche schon länger nach gangbaren Möglichkeiten, dem Wolfsproblem Herr zu werden, sagte Batist Spinatsch. Doch übergeordnetes Recht verhindere schnelle Änderungen. Für Mehraufwand und Material habe der Bund für 2023 vier Millionen Franken gesprochen. Die Gesuche für finanzielle Mittel «Sofortmassnahmen» müssten bis zum 22. Mai eingereicht werden, so Spinatsch. 

Auch der Bündner Bauernverband versucht die Nutztierbesitzer zu unterstützen. Komme es zu Wolfsrissen, so Sandro Michael, BBV-Geschäftsführer, seien Tierbesitzer(innen) oft alleine und mit der Situation überfordert. Deshalb werden «Wolfswehren» aufgebaut. Nach einem Ereignis kann dort Hilfe angefordert werden. Sei es, um verletzte oder entlaufene Tiere einzufangen und abzutransportieren, tote Tiere zu entsorgen, Zäune wiederherzustellen und vor allem die Geschädigten physisch und psychisch zu entlasten. 

Es bleiben viele offene Fragen

Wolf im Berner Haslital«Darf man eigentlich sein Eigentum vor dem Wolf schützen?»Montag, 16. Mai 2022 Von der Möglichkeit, im Anschluss an die Referate Fragen zu stellen, machten die Anwesenden rege Gebrauch. Zu hören war etwa: Ob man sich bei all diesen Konzepten überhaupt bewusst sei, wie sehr die Tier­be­sit­zer­(in­nen) unter der Wolfssituation leiden, welchen psychischen und physischen Belastungen man ausgesetzt ist? Die politischen Mühlen würden viel zu langsam mahlen im Vergleich zum rasanten Wachstum der Wolfspopulation. Man müsse heute überall im Kanton mit Wölfen rechnen. Doch wie kann man sich wirklich schützen? Wie soll man mit den Tieren auf den Heimweiden umgehen? Was soll und ist zu tun, wenn Viehherden sich plötzlich anders verhalten?

Bald beginnt die Weidesaison

Wer ist haftbar, wenn Unfälle trotz Warntafeln geschehen? Wenn Tierherden «grundlos» fliehen und über Felswände stürzen und kein Beweis für einen Wolfsangriff zu finden sei, wer kommt dann für den Schaden auf? Um vom Bund und Kanton entschädigt zu werden, muss bewiesen werden, dass Wölfe die Ursache gewesen seien. Doch wie kann man das beweisen, wenn Spuren wetterbedingt verschwunden sind? Was kann man noch beweisen, wenn tote Tiere erst nach Tagen, halbverwest, gefunden werden? Warum wird viel zu wenig offen über das Vorhandensein von Wölfen informiert? Auch war zu hören, dass SMS-Warnungen für Tierbesitzer oft mit grosser Verspätung kämen. Und warum verschweigen Tourismusorganisationen, dass Wölfe in der Gegend sind?

Auch nach der Veranstaltung blieb ein spürbares Unbehagen. Bald beginnt die Weidesaison. Dann bringen die Wolfspaare ihre Jungen zur Welt bringen und holen sich das Futter dort, wo sie es mit geringstem Aufwand bekommen.

Wolfsrudel in Mittelbünden (Karte)