Alle schlafen noch, schliesslich sind Ferien. Nur Primarschülerin Johanna aus Küsnacht im Kanton Zürich schleicht schon morgens um sechs aus der Ferienunterkunft im Prättigau in den Bündner Bergen. Ihr Ziel: Der benachbarte Bauernhof mit seinen 15 Braunviehkühen. Dort hilft sie am Morgen oft im Stall und manchmal später am Tag beim Heuen der steilen Magerwiesen. Johanna ist überzeugt: Nach der Schulzeit wird sie eine Landwirtschaftslehre machen. Ganz sicher.
Es kam anders. Doch Johanna Häckermann blieb der Landwirtschaft verbunden. Sie studierte an der ETH in Zürich Agronomie, spezialisierte sich auf Pflanzenbau und schrieb eine Dissertation über biologische Alternativen zu den chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln. «Die Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft war mir wichtig», sagt die heute 44-Jährige.
Nach dem Studium arbeitete die Agronomin elf Jahre bei Andermatt Biocontrol. Die Firmaist auf biologischen Pflanzenschutz-, Schädlingsbekämpfungs- und Düngemittellösungen spezialisiert. Johanna Häckermann leitete während neun Jahren die Produktion. Sie war quasi eine andere Art von Landwirtin, mit Insekten anstelle von Kühen als Nutztiere.
Gerne im Team
Die letzten beiden Jahre baute sie als Projektleiterin im Alleingang eine Bildungsabteilung für Anwender auf. «Denn es braucht Hintergrundwissen, damit der Einsatz von Nützlingen undanderen biologischen Alternativen genau so gut funktioniert, wie ein chemisch-synthetisches Pflanzenschutzmittel.»
Per Zufall stiess sie auf eine Stellenanzeige des Naturamas Aargau. Sie hatte seit einiger Zeit realisiert, dass ihr die Teamarbeit fehlte. Das wurde in diesem Job in Aussicht gestellt. Die Stiftung Naturama Aargau ist ein Kompetenzzentrum für Natur- und Nachhaltigkeitsfragen. Er besteht zum einen aus einem Museum und führt zum andern verschiedene praxisorientierte Veranstaltungen in den Bereichen Nachhaltigkeit, Naturförderung und Umweltbildung durch.
Ziel: Breitenwirkung
«Die Zusage hat mich fast überrumpelt», erinnert sich Johanna Häckermann bei einem Kaffee im Museumscafé. Sie arbeitet seit drei Jahren hier, ist Leiterin des Bereichs Bildung, Naturförderung und Nachhaltigkeit und seit Herbst 2020 auch Vorsitzende der Geschäftsleitung.
Also Adé Landwirtschaft? Johanna Häckermann blickt einen Moment versonnen aus dem Fenster. «Ich habe Agronomie studiert, weil ich die Natur liebe. Hier habe ich ein inspirierendes Umfeld, das sich breit für die Ziele der Agenda für nachhaltige Entwicklung einsetzt. Durch diese Breite kann ich noch mehr Wirkung erzielen.»
Die Kaffeetassen sind leer. Johanna Häckermann führt durch die Ausstellungsräume. Neben präparierten «Streicheltieren» finden sich im Erdgeschoss auch Terrarien mit lebendigen Tieren zum Bestaunen, etwa Zwergmäuse oder Gelbbauchunken. Teile der Gesamtausstellung wirken etwas in die Jahre gekommen. Sind sie auch. Ab diesem Jahr, zum 20-jährigen Jubiläum des Naturamas, wird sie daher etappenweise erneuert. «Wir wollen das Museum neu denken und noch mehr bleibende Erfahrungen ermöglichen.»
Verschiedene Standbeine
Im Stockwerk darüber können sich die Besucher mit der Frage beschäftigen, wie viel Urzeit in jedem von uns steckt und was Menschen mit Quallen oder Bananen gemeinsam haben. Die Antwort lautet: etliche Gene, bei Bananen sind es 50 Prozent.
Der Rundgang führt zu den zweckmässigen Arbeitsplätzen im Backoffice. 42 Mitarbeitende hat die Organisation, das entspricht 24 Vollzeitstellen. Doch Vollzeit arbeitet niemand, auch die Chefin nicht. Johanna Häckermann hat bewusst nur ein 75-Prozent-Pensum. «Das geht, wenn man delegieren kann.»
Mit leisem Stolz beginnt sie, die verschiedenen Tätigkeitsfelder des Naturamas aufzuzählen, abgesehen vom Museumsbetrieb. So bietet die Stiftung etwa Lehrern Weiterbildungskurse zum Naturkundeunterricht in freier Natur an.
Die Stiftung engagiert sich im Landschafts- und Gewässerschutz, arbeitet mit Gemeinden, Verwaltungen und Werkhofmitarbeitern. Zum Angebot gehören auch hier praxisorientierte Kurse, zum Beispiel, wie man Blumenwiesen ansät und pflegt. Oder effizient, aber chemiefrei Unkraut bekämpft.
Preis gewonnen
Ein weiteres Thema ist die Anpassung an den Klimawandel, vor allem in den urbanen Gebieten, weil hier die Auswirkungen stärker zu spüren sind als auf dem Land. Für das Projekt «Natur findet Stadt» erhielt dasNaturama im letzten Jahr den ersten Binding-Preis für Biodiversität, dotiert mit 100 000 Franken. Das Ziel des Projekts: Mehr Biodiversitätsflächen auf öffentlichen Flächen wie auch in privaten Gärten. Bereits machen rund 20 Gemeinden und rund 250 Privatpersonen mit.
Im Frühling, zum 20-Jahr-Jubiläum, startet die Sonderausstellung «Respekt Insekt». Im Zentrum stehen Insekten, ihre Lebensräume und die Dienstleistungen, die Insekten für uns Menschen erbringen, zum Beispiel bei der Bestäubung. «Was würde ein Apfel kosten, wenn wir Menschen oder Roboter Pflanzen bestäuben müssten?»
Johanna Häckermanns Engagement ist spürbar. Damit die Projekte der Stiftung auch wirklich umgesetzt werden können, betreibe sie als Gesamtleiterin viel Beziehungsarbeit mit Kolleginnen, Geldgebern oder mit der Stadt Aarau. Dazu kommen die fachlichen Anliegen der verschiedenen Projektleitenden, die sie möglichst zügig angeht. «Ich verstehe mich als jemand, der den Mitarbeitern zügig die Steine aus dem Weg räumt.»
Der Rundgang geht weiter. Johanna Häckermann schnappt sich ihre Winterjacke, es geht nach draussen in den kleinen Garten. Es ist einer ihrer Lieblingsplätze. «Hier leben über 300 Arten auf kleinstem Raum.»
Mit den Händen arbeiten
Sie ist gerne draussen. In ihrer Wohngemeinde Zürich Altstetten bewirtschaftet sie einen Pachtgarten, in dem sie Gemüse anbaut. «Die Liebe zur praktischen Landwirtschaft ist mir geblieben.» Und sie verarbeite gerne Lebensmittel, macht ein, dörrt Bohnen.
Nachhaltig leben ist ihr auch im Privaten wichtig. Sie habe kein Auto, aber dafür ein Gemüse-Abo, meint sie mit einem Lächeln. Food-Waste vermeiden, ist ihr ein grosses Anliegen. Bevor sie etwas Neues kauft wie etwa Kleidung, recherchiere sie gründlich über nachhaltige Hersteller. Die letzten Ferien? Drei Wochen Fernwandern in der Westschweiz.
Und welchen Luxus leistet sie sich? Johanna Häckermann blickt wieder in die Ferne. «Dass ich das Leben leben kann, das ich mir wünsche. Und dass ich meine Leidenschaft für die Natur im Beruf leben kann.»
Trotz aller Begeisterung für die Kopfarbeit bleibt die handfeste Landwirtschaft ein Sehnsuchtsort. Dreimal war sie bereits einen Sommer auf der Alp. Und irgendwie reizt sie das noch immer. Doch inzwischen lebe sie fast vegan, winkt sie ab, wahrscheinlich sei eine Alp dann doch nicht das Richtige. Aber anderseits: «Vielleicht gibt es schon bald die erste vegane Alpkäserei? Da würde ich gerne mithelfen.»
Weitere Informationen: www.naturama.ch