Wir haben Krieg in Europa. Lieferketten werden gestört, Boykotte und Gegenboykotte sind zurückgekehrt. Eine Verknappung der Lebensmittelzufuhr ist wieder denkbar geworden. Was lehrt uns die Geschichte?
Verknappung führt zu Konflikten
Bei Verknappung entsteht bekanntlich Verteuerung. Es folgen Hamsterkäufe, die die Teuerung noch anheizen. Kommt es dann zu einer Mangelsituation, schaut jedes Land für sich. Kluge Regierungen wissen: Hunger ist die Vorstufe zum Volksaufstand. Die Einkaufskonkurrenz unter den Ländern nimmt zu und wird politisch. Da hilft uns unser Geld dann auch nicht mehr. Und man ist froh, dass die Bäuerinnen und Bauern uns wenigstens eine gewisse Sicherheit durch die Inlandsproduktion bieten können.
So geschehen im 2. Weltkrieg, als Importe nur noch sehr begrenzt möglich waren. Es drohte eine Hungersnot. Da gab es den weisen Agronomen Friedrich Traugott Wahlen mit einem Plan namens «Anbauschlacht». Sein Rezept: Durch vermehrten Ackerbau lassen sich mit gegebener Fläche mehr Menschen ernähren. Damit konnte der Grad an Selbstversorgung von 50 auf 73 Prozent erhöht werden.
«Dank der Landwirtschaft konnten eine Hungersnot vermieden und der Landesfrieden erhalten werden.»
Ernst Wüthrich über die Bedeutung der «Anbauschlacht» während des Zweiten Weltkrieges.
Dazu kam eine gerechte Verteilung der knappen Milch- und Fleischprodukte mittels Marken, die zu einer bestimmten Menge berechtigten. Bei der Umsetzung sorgte der Lebensmittelspezialist Arnold Muggli für einen gesunden Nahrungsmix. Niemand musste hungern und konnte von Kartoffeln und übrigem Gemüse so viel essen, wie er oder sie wollte. Aber in den meisten europäischen Ländern waren auch diese begrenzt.
Agrarwissenschaftliches Wissen umgesetzt
Die Anbauschlacht ist ein Beispiel der Umsetzung von agrarwissenschaftlichem Wissen. Aber die Umsetzung besorgten die Bäuerinnen und Bauern. Und Mehr-Ackerbau bedeutete damals viel mehr Arbeit, gerade auch Handarbeit. Dazu kam, dass viele Bauern samt Pferden im Aktivdienst waren. So trugen die Bäuerinnen eine grosse Last.
Dank der Landwirtschaft konnten eine Hungersnot vermieden und der Landesfrieden erhalten werden. Dieser einmalige Leistungsnachweis soll für die Bäuerinnen und Bauern in dankbarer Erinnerung gehalten werden. Eine solche Gedenkfeier veranstalten wir am 28. April 2024 auf dem Appenberg bei Zäziwil BE.
Zwei Vorstösse für mehr Selbstversorgung
Was können wir aus der Anbauschlacht lernen? Die heutige Situation ist schwieriger: Wir haben fast die doppelte Bevölkerung und weniger Anbaufläche. Der Selbstversorgungsgrad liegt unter 50 Prozent brutto und unter 40 Prozent netto (nach Abzug der importierten Inputs wie Kraftfutter, Dünger, Saatgut usw.).
«Dass viele Bauern von weiteren Umweltauflagen nichts wissen wollen, verstehe ich.»
Ernst Wüthrich kann den Bauern nachfühlen.
Es ist höchste Zeit, der Gefahr einer Verknappung vorzubeugen. Darum laufen auch zwei politische Vorstösse zur Erhöhung des Selbstversorgungsgrades. Der eine kann als «liberal-bauernnah» bezeichnet werden, weil er für die Erhöhung der Produktion durch Abbau der Bioflächen ist. Der andere Vorstoss mutet grün an, weil die Erhöhung der Selbstversorgung und die Erhöhung der Umweltauflagen verlangt werden.
Verständnis für die Anliegen der Bauern
Nun weiss man aber, dass eine besonders umweltschonende Produktion einen Minderertrag bedeutet, der im Bio-Anbau durchschnittlich 15 Prozent beträgt. Wie könnte dieser Gegensatz von Umwelt und Produktion gelöst werden? Wenn wir uns an das Prinzip der Anbauschlacht erinnern, steht dort, dass mit Mehr-Ackerbau ein Mehr an Kalorien einhergeht. Dank Ackerbau könnten wir uns Bio bzw. eine besonders schonende Landwirtschaft eher leisten.
Dass viele Bauern von weiteren Umweltauflagen nichts wissen wollen, verstehe ich. Sie kämpfen um ihre Existenz, wollen und müssen produzieren und verdienen. Viele haben hohe Investitionen getätigt und erfahren eine knappe Rechnung und zu wenig Preissicherheit. Zudem liegt der Stundenlohn in der Landwirtschaft immer noch klar unter dem, was für vergleichbare Arbeit bezahlt wird.
Der Bauernstand wird noch wichtiger
Aber Bäuerinnen und Bauern haben gute Argumente und können auf einen Bedeutungsanstieg ihres Standes hoffen. Das begründe ich wie folgt: Mit dem Bevölkerungswachstum steigt die Nahrungsnachfrage und damit die Bedeutung der Landwirtschaft. Und diesem Nachfragewachstum kann die Landwirtschaft durch vermehrten Ackerbau nachkommen, weil so mehr Nahrung pro Flächeneinheit möglich ist.
Gedenkfeier für Friedrich Traugott Wahlen
Zu Ehren des Vaters der Anbauschlacht, Friedrich Traugott Wahlen, wird am Sonntag, 28. April 2024, eine Gedenkveranstaltung im Hotel Appenberg bei Zäziwil BE abgehalten. Besucherinnen und Besucher erwartet ein ansprechendes Programm, das mit einem Referat von Alt-Bundesrat Adolf Ogi und einer Podiumsdiskusion aufwartet.
In der Gesprächsrunde sitzen der Ständerat und Agronom Werner Salzmann (SVP/BE), die Nationalrätin und Agronomin Christine Badertscher (Grüne/BE), der emeritierte Wirtschaftsprofessor Ernst Wüthrich sowie Achim Walter, Professor und Leiter des Instituts für Agrarwissenschaften an der ETH Zürich.
Details und Anmeldung per Mail an rudolf.meister@gmx.net oder per Telefon unter 077 435 66 36.
Bäuerin und Bauer können als zukünftige «Garanten für die Ernährung» angesehen werden – ein neues und doch recht edles Berufsbild. Selbst in den nun einmal kommenden, strengeren Umweltregeln liegt eine Chance. Das Berufsbild heisst hier: «Die Bäuerin, der Bauer als Garant für die Erhaltung und Pflege der Natur.»
Der Ackerbau ist einmal mehr die Lösung
Und wenn der Trend zu weniger Fleisch, zu Ersatzprodukten für Milch und Fleisch zunehmen wird? Immerhin gibt es zu den rund 4 Prozent Schweizerinnen und Schweizern, die kein Fleisch essen, deren 20 Prozent, die weniger Fleisch essen. Ja, dann kann die Landwirtschaft den Trend als Chance statt als Bedrohung sehen. Diese immer besser werdenden Ersatzprodukte brauchen meist als Grundstoff Früchte des Ackerbaus – also auch wieder der Ackerbau als Lösung.
«Es gibt also mittel- bis langfristig Chancen aus scheinbaren Bedrohungen.»
Ernst Wüthrich sieht gute Perspektiven für die Schweizer Landwirtschaft.
Das hören jetzt die Mäster gar nicht gerne. Aber damit ist ja nicht gemeint, dass kein Fleisch mehr gegessen wird. Und wir in der Schweiz haben ja viel Land oberhalb der Ackerbauzonen. Und da sagen die Agronomen, dass Weidewirtschaft das Beste sei, wenn nicht überweidet werde. Es braucht ja nur Wasser und wenig Naturdünger. Die gewünschte Insektenvielfalt kann sich entwickeln – gerade auch die Bestäuber. Beim Fleischmarkt sehe ich die Chance in «weniger, aber viel besser und teurer». Bereits heute gibt es bekanntlich Mastbetriebe, die eine Edel-Rindrasse als «Fleisch vom Weiderind aus der Schweiz» zu sehr guten Preisen vermarkten.
Chancen aus scheinbaren Bedrohungen
Die Vision: Unsere Bäuerinnen und Bauern verstehen und geben sich als Garanten für die Ernährungssicherheit und den Erhalt der Natur. So könnten die Konsument(innen) für Inlandsprodukte mit guten Preisen gewonnen werden. Und bei den Stimmbürger(innen) und Politiker(innen) würde die Einsicht wachsen, dass diese edle Sicherheitsleistung ihren Preis haben darf und muss und dass es Schutz vor Billig-Import braucht.
Dann soll auch die dringende Erhöhung des Selbstversorgungsgrades als Sicherheitsleistung unserer Landwirtschaft angesehen werden. Und diese Leistung von Sicherheit ist eine angemessene Versicherungsprämie wert. Es gibt also mittel- bis langfristig Chancen aus scheinbaren Bedrohungen. Und es gibt daraus gute Argumente, dass unsere Landwirtschaft eben mehr ist als Produkte zu möglichst tiefem Preis gegenüber einem unfairen Wettbewerb durch Auslandskonkurrenz mit wesentlich tieferen Herstellungskosten.
Zur Person
Ernst Wüthrich ist emeritierter Wirtschaftsprofessor und ehemaliger Präsident des Vereins «Erinnerung an Friedrich Traugott Wahlen». Er hat einen Film über Friedrich Traugott Wahlen und die Anbauschlacht realisiert und wird an der Gedenkfeier am 28. April (siehe grüner Kasten oben) an der Podiumsdiskussion teilnehmen.