Laut Statistik des Bundes leben nur noch 14 Prozent der Bevölkerung der Schweiz in ländlichen Gemeinden. Sind die für die Politiker eine vernachlässigbare Minderheit geworden?
Michael Hermann: Es gibt tatsächlich eine Verschiebung hin zu Zentren. Aber: Wir haben in der Schweiz keine Entleerung der ländlichen Gebiete.
Aber die ländliche Schweiz hatte früher mehr politisches Gewicht.
Es gehört zur Schweizer Politik, dass es immer gegenläufige Trends gibt. Durch den Ständerat und das Ständemehr bei Abstimmungen ist die ländliche Schweiz immer noch stark überrepräsentiert. Und der Bauernverband gehört zu den stärksten Verbänden der Schweiz. Natürlich gibt es Ausnahmefälle wie die Abstimmung über das Jagdgesetz 2020, als die ländliche Bevölkerung überstimmt wurde. Typischer ist aber die Situation, die wir bei den Landwirtschafts-Initiativen oder dem CO2-Gesetz hatten.
Weshalb fühlen sich die Leute auf dem Land denn so oft übergangen?
Die wirtschaftliche und mediale Macht liegt in den urbanen Gebieten. Auch wenn das Land in der Politik nicht an die Wand gedrückt wird, ist das doch spürbar. Etwa bei der Themensetzung. Für die urbane Bevölkerung haben andere Themen Priorität. Das zeigte etwa der Wahlerfolg der Grünen 2019. Aber eben, es gibt immer Gegentrends. Die grüne Welle ebbte wieder ab. [IMG 2]
Sie sprechen von eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen. Aber ländliche Anliegen haben es auch in den Kantonen schwer.
Das Wallis zum Beispiel galt einst als konservativer Bergkanton. Heute ist das Unterwallis Teil der Agglomeration Arc Lémanique, die bis Genf reicht. Um den Lötschberg-Basistunnel und die Lonza hat auch das Oberwallis seinen Charakter verändert. Wirklich ländlich sind im Wallis nur noch einige abgelegene Dörfer. Diese sind auch im Kanton zunehmend marginalisiert und fühlen sich übergangen.
Das heisst, die Kantonsregierungen, die in den Vernehmlassungen mitreden, vertreten auch in den Alpenkantonen nicht mehr unbedingt die ländliche Schweiz?
Die Urbanisierung beschränkt sich nicht auf das Unterland. Auch in Bergkantonen haben die meisten Siedlungszonen den typisch ländlichen Charakter verloren. Die Regionen um Visp, Thun oder Chur mögen nominell in den Alpen liegen, aber die Lebenswelt ist urban. Ein grosser Teil des Kantons Glarus gehört heute zur Agglomeration Zürich; Ähnliches gilt für Nidwalden oder Schwyz. Die klassische alpine Welt, wie sie die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für das Berggebiet (SAB) vertritt, ist selbst in den Alpenkantonen nur noch eine Minderheit.