Wohnen nebst der Familie des Betriebsleiters auch dessen Eltern auf dem Hof, die sich bei allem einmischen? Gehorcht das Kind am Esstisch nicht, sondern spielt weiter mit dem Essen? Für solche Situationen mit Konfliktpotenzial bietet die Gewaltfreie Kommunikation eine einfache und tiefgreifende Lösung. Der amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg entwickelte dieses Konzept in den 1960er-Jahren.


Von sich selbst statt vom anderen sprechen


«Wir alle handeln und kommunizieren auf eine bestimmte Weise, die unserer persönlichen Prägung entspringt. Geprägt werden wir psychisch und körperlich während unserer Entwicklung durch unser Umfeld. In Beziehungen treffen diese Prägungen aufeinander, und wir sind uns oft nicht bewusst, wie wir auf andere wirken», erklärt Renata B. Vogelsang. Die 57-Jährige arbeitet unter anderem als Mediatorin und Coach in eigener Praxis in Ennetbaden AG und bietet Kurse vor Ort wie auch ein öffentliches Kommunikationstraining an.

«Die Gewaltfreie Kommunikation geht davon aus, dass beide Parteien zu gleichen Teilen an Gesprächen und allfälligen Konflikten beteiligt sind, auch wenn es anders scheint», gibt sie zu bedenken. «Wir sollten lernen, von uns selbst zu sprechen, statt ‹du› zu sagen, und uns fragen, was genau wir wollen. Das ist nicht egoistisch – damit übernehmen wir Verantwortung für uns selbst.»

Wertfreie Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitte


Renata B. Vogelsang schlägt vor, Konflikte umgehend anzusprechen, statt sie auszusitzen. «Wer meint, dass es viel Zeit kostet, eine gemeinsame Lösung zu finden, sollte die angespannten Nerven und die schlaflosen Nächte bedenken.» Vielen Menschen sei der Gesprächsverlauf der Gewaltfreien Kommunikation anfangs fremd, aber sie würden schnell Vertrauen fassen. Ob das Gegenüber dieses Konzept kenne oder nicht, sei unwichtig.

Die Gewaltfreie Kommunikation umfasst vier Schritte: wertfreie Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitte. «Als Erstes wird die betreffende Situation beobachtet: Was höre ich? Was sehe ich? Wie handelt mein Gegenüber?» Wer dabei nicht interpretiert, warum sich die andere Person auf eine bestimmte Art verhält und wie sich die Situation weiterentwickeln könnte, kann einfacher 
seine Gefühle und die damit verbundenen Bedürfnisse wahrnehmen. Denn ein Gefühl entsteht aus einem erfüllten oder unerfüllten Bedürfnis.


Die Bitte schliesslich schafft eine Verbindung zum Gegenüber: Sie drückt das Interesse an der Befindlichkeit des anderen aus oder zeigt die Wertschätzung seiner Sicht der Dinge. Dies geschieht durch Nachfragen: «Wie klingt das, was ich sage, bei dir an?» «Wie ist deine Meinung dazu?» Oder, wenn es um eine Wunscherfüllung geht: «Bist du bereit, das zu tun?» Wird die eigene Bitte ausgesprochen, erfährt das Gegenüber, wie es ein Bedürfnis erfüllen kann. Davon auszugehen, dass es von allein weiss wie, führt häufig zu Missverständnissen und Frust.

Ein «Nein» heisst nicht, dass man eine Bitte aufgeben muss


«In unserem kulturellen Kontext haben wir gelernt, dass wir jemandem ausgesetzt oder egoistisch sind, wenn wir um etwas bitten, und dass wir unsere Wünsche aufgeben müssen, wenn die Antwort Nein lautet», sagt Renata B. Vogelsang. Dies stimme nicht: «Wir können mit den vier Schritten wieder von vorn beginnen und unser Bedürfnis weiterverfolgen, dem Gegenüber aber Raum lassen, damit es sich ebenfalls äussern kann. Denn wir wollen seine Gründe verstehen.» Die Gewaltfreie Kommunikation gehe von Gleichwertigkeit und Kooperation aus – durch diese Haltung verliere die Bitte ihren unterwürfigen Beigeschmack.

Gleichwertig trotz verschiedenen Rollen


Wer meint, die Gewaltfreie Kommunikation laufe nur harmonisch ab, täuscht sich. «Die Devise lautet: Sei klar und empathisch, nicht nett. Wir können und sollen unsere Wut ausdrücken, denn darunter liegt ein unerfülltes Bedürfnis. Dabei muss uns bewusst sein, dass allein wir für unsere Reaktion verantwortlich sind. Das Gegenüber ist nur der Auslöser», verdeutlicht die Kommunikationsexpertin.

Gerade auf einem Landwirtschaftsbetrieb, wo nicht nur zusammen gearbeitet, sondern auch zusammen gewohnt und gelebt wird, sind die Herausforderungen besonders gross. Deshalb sei es umso wichtiger, dass sich alle Beteiligten ihrer Rollen bewusst seien. Ein Landwirt kann je nach Tagesverlauf beispielsweise Betriebsleiter, Ehemann, Vater und Vereinspräsident sein, und zu jeder dieser Rollen gehört eine Verantwortung, die es zu kennen gilt. «Trotz den Rollen sind wir auf der menschlichen Ebene gleichwertig», doppelt Renata B. Vogelsang nach.


Das Pferd vor dem Abgrund stoppen


Menschen reagieren in Konfliktsituationen unterschiedlich. Der amerikanische Psychologe John Gottman hat aufgrund mehrerer Studien vier Komponenten gefunden, welche die Eskalation fördern: Kritik statt Feedback, Verachtung, Gegenangriff und Rückzug. Bei Letzterem richtet sich die Eskalation nach innen und schadet der eigenen Gesundheit. Gottman nannte sie die «apokalyptischen Reiter», was Renata B. Vogelsang treffend findet: «Wir setzen uns auf das Pferd, galoppieren los und landen damit häufig im Abgrund statt bei einer für alle Seiten befriedigenden Lösung. Mit der Gewaltfreien Kommunikation lässt sich das Pferd stoppen.»

Miryam Azer