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Ob ich die Alpaufzüge fotografiert habe, will ein älterer Herr gegen Mittag auf dem Rückweg von der Alp Kammhütten wissen. Er ist daran, Zaunpfosten einzusammeln, die nicht mehr gebraucht werden. 14 Alpfahrten hätten am Morgen auf der Strasse von Urnäsch in Richtung Schwägalp stattgefunden, erzählt er weiter. Auf meine Antwort, dass ich den Alpaufzug der Familie Signer

begleitet und dabei auch Fotos gemacht habe, stellt der ältere Appenzeller fest: «Dann sind  
Sie bei der dritten Alpfahrt dabei gewesen.»


Um 3 Uhr gehts los


Der Bauernhof von Bruno und Brigitte Signer liegt in Jakobsbad, einem Weiler von Gonten. Es ist eines der vielen typischen «Heimetli» am Hang eines der zahlreichen Hügel, die das Appenzellerland prägen: ein Wohnhaus mit angebautem Ökonomieteil, in dem heute die Ziegen untergebracht sind. Etwas unterhalb befindet sich der Kuhstall, der im Jahr 2002 errichtet worden ist.

Von dort startet am 11. Juni die Alpfahrt. Als sich der Tross um

3 Uhr in Bewegung setzt, beginnt es auch zu regnen. Nicht heftig, aber stetig. Bis zur Ankunft auf der Alp Kammhütten werden die Teilnehmer der Alpfahrt vom Dauerregen begleitet. Der Weg führt zuerst von Jakobsbad auf der Hauptstrasse in Richtung Urnäsch, ungefähr parallel zu den Gleisen der Appenzellerbahn. Den Anfang und den Schluss des Trosses bilden je ein Auto mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Ein oder zweimal überholen oder kreuzen Fahrzeuge den Alpaufzug. Sonst ist es stockdunkel. Es dauert einige Minuten, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben.


Treichelklänge und «Zäuerli»


Akustisch prägen die grossen Treicheln der drei Leitkühe den Aufzug. Immer wieder sind aber auch die Juchzer der vier Sennen zu hören, die den Zug begleiten. Diese freiwilligen Helfer kennen sich bestens im Umgang mit Kühen aus.

Sie können aber auch singen. Und wie! Immer wieder stimmen sie ein «Zäuerli» an, einen Naturjodel. Jeder in seiner Stimmlage. Die Harmonien stimmen, es geht kein Ton daneben. Die getragenen Klänge über dem konstanten Klangteppich der Treicheln lassen eine feierliche Stimmung aufkommen. Man lässt sich mittragen, wird Teil des Aufzugs, vergisst, was einen sonst noch so beschäftigt und versinkt

in sich.


Fotosujet für Touristen


Die Sennen stimmen ihre «Zäuerli» auch dann an, wenn niemand zuhört. Das ist auf dem Abschnitt von Jakobsbad bis Urnäsch der Fall. In Urnäsch wird der Alpaufzug der Familie Signer von einigen Touristen erwartet, die Fotos schiessen. Aber auch Einheimische stehen am Rande der Route und offerieren den Sennen und den Begleitern des Umzugs zur Erfrischung ein Getränk. Da bleibt auch Zeit für einen kurzen Schwatz. Ab Urnäsch ist die Strasse in Richtung Schwägalp wegen der zahlreichen Alpaufzüge für den Autoverkehr gesperrt.


Vegetation wird karger


Die Leute, die trotz Dauerregen die Alpfahrten vom Strassenrand aus verfolgen, werden zahlreicher. Nach etwa zwei Dritteln des Weges zur Schwägalp wird es langsam heller. Der Aufzug der Familie Signer verlässt die Autostrasse. Auf Fahrstrassen und Feldwegen, entlang von Voralpen und Alpen, geht der Weg in Richtung Alp Kammhütten.

Die Vegetation wird karger. Wir befinden uns nun in den Alpen, nicht mehr in den Voralpen. Die Pausen, die eingeschaltet werden, um den Aufzug zusammenzuhalten, werden länger. Auch das Tempo ist etwas langsamer geworden als beim Start in Jakobsbad. Gegen 7 Uhr morgens kommen dann die Gebäude der Alp Kammhütten zum Vorschein. Sie liegen am Fusse der imposanten Felswand des Säntismassives, das an diesem grauen Morgen abweisend wirkt.


25 Normalstösse


Die Alp Kammhütten liegt auf einer Höhe von 1368 Metern über Meer. Es ist das 7. Jahr, dass die Signers auf dieser Alp eine Alphütte für die Familie und je einen Stall für die Ziegen und Kühe gepachtet haben. Die Gemeinschaftsalp wird von mehreren Bauernfamilien bewirtschaftet. Sie bietet eine Weidefläche für 250 Normalstösse.

Die 20 Kühe, fünf Rinder und neun Geissen, welche die Familie Signer während zehn Wochen sömmert, entsprechen rund 25 Normalstössen. Sämtliche Rinder und Kühe sind trächtig. Bis auf zwei werden alle während der Alpsaison trocken gestellt.

Der Aufwand und die Organisation, die hinter einem traditionellen Appenzeller Alpaufzug stecken, sind gewaltig. Etwa um halb 3 Uhr in der Früh servieren Brigitte Signer und ihre Töchter den vier Sennen, die beim Aufzug mithelfen, ein reichhaltiges Frühstück. Doch zuvor müssen die Töchter für den Aufzug «gsunntiget» werden, denn zur Alpfahrt gehören Tracht und kunstvoll gezöpfelte Haare. Ebenfalls noch vor dem Frühstück müssen die Kühe gemolken und im Stall muss alles für die Alpfahrt vorbereitet werden – um diese Aufgaben kümmern sich Bruno Signer und seine älteren Söhne.


Auch während der Alpfahrt selbst ist die ganze Familie beteiligt: Der siebenjährige Werner und seine 12-jährige Schwester Miriam bilden als «Geissbueb» und «Geissmeitli» die Spitze des Umzugs. Dahinter folgt, so will es die Tradition, der Vorsenn: Der 17-jährige Sämi Signer führt die drei Treichelkühe an. Der Platz der vier Sennen befindet sich zwischen den Treichelkühen und der übrigen Herde. In dieser sorgt der 14-jährige Ueli Signer für Ordnung. Etwas hinter den Kühen führt Vater Bruno Signer den Muni auf die Alp.


Kein Pferd zum Abschluss


Den Abschluss des Umzugs hätte die 18-jährige Tochter Marina als Führerin eines Pferdegespanns bilden sollen. Ein solches gehört nämlich zu einem traditionellen Appenzeller Alpaufzug. Seine Aufgabe ist es, die für das Melken benötigten Gerätschaften auf die Alp zu transportieren. Das hat dieses Jahr leider nicht geklappt: Während Jahren hatten die Signers ihr eigenes Pferd, das sie für diese Aufgabe einspannen konnten. Doch mit 26 Jahren war dieses alt und schwach geworden. Es musste letztes Jahr weggegeben werden.

Das Pferd, das Bruno Signer sich für den diesjährigen Alpaufzug ausgeliehen hat, erschrickt aus welchem Grund auch immer und scheut. In der fremden Umgebung ist es von unbekannten Personen nicht zu beruhigen. Es lässt sich nicht unter einem vernünftigen Aufwand einspannen. Das «wurmt» Bruno Signer. Doch, so stellte er fest: «Es ist ein Tier. Da lässt sich nichts erzwingen.»


Doppelt eingespannt


Während der nächsten Wochen sind Bruno Signer und seine Familie doppelt eingespannt. Auf der Alp wartet Arbeit genug. Aber auch der Talbetrieb muss bewirtschaftet werden. So muss etwa das Emd eingebracht werden. Die Familie Signer verlegt ihren Wohnsitz weitgehend auf die Alp. Brigitte Signer liefert die Milch der Kühe und der Ziegen täglich in der Milchsammelstelle Gonten ab. Auf dieser Fahrt bringt sie auch die schulpflichtigen Kinder zum Unterricht.

Die Alpwirtschaft ermöglicht eine optimale Bewirtschaftung der Futtergrundlage im Talbetrieb. Doch dies ist nicht der einzige Grund, weshalb es Bruno Signer mit seiner Familie Jahr für Jahr auf die Alp zieht. «Aus dem Alltag ausbrechen und z' Alp fahren, ist etwas vom Schönsten im Jahresverlauf», sagt er. Er liebt diese Tradition und möchte versuchen, diese weiterzugeben.

Christian Weber