Einsam steht ein alter Älpler auf einer Hügelkuppe und betet lautstark den Alpsegen über nebelverhangene Grate und Wiesen. Wir befinden uns im Walliser Hochtal Goms, auf der Alp Aeginen, die zur Gemeinde Reckingen gehört, und schreiben das Jahr 1975. Das Schweizer Fernsehen dreht einen Dokumentarfilm über die Walliser Alpwirtschaft und deren Zukunftsfähigkeit. Der Film liegt heute im Youtube-Archiv des Schweizer Fernsehens.

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Ist die Hirtenkultur dem Untergang geweiht?

Während der Blick über die Berghänge und Alpweiden schweift, malt der Sprecher ein düsteres Bild von der Zukunft der Alpwirtschaft. Bergtäler wie das Goms begannen sich zu dieser Zeit zunehmend zu entvölkern. Die junge Bevölkerung wanderte immer häufiger ab auf der Suche nach Arbeit und Anschluss an die «moderneren» Ballungsräume. Ein Schicksal, das nicht nur die Gommer Bergdörfer betraf. «Lautlos ist das Sterben, das diese alten Hirtenkulturen heimsucht», meint der Sprecher dazu etwas pathetisch.

«Ich bete den Alpsegen wegen der Kühe und dass wir Glück haben auf der Alp, mit den Kühen, den Hirten, dem Käse und allen Touristen, die vorbeikommen», meint der Älpler und richtet seinen Blick zum Himmel.

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Für den örtlichen Priester ist die Tradition nach wie vor ein fester Teil seines Glaubens: «Der Alpsegen ist für uns Priester sicher keine leere Formel, denn wir haben die Aufgabe, zu segnen und zu weihen», meint er in seinem speziellen Gommer-Dialekt. «Sonst wären wir nicht jahrzehntelang auf dem stillen, einsamen Posten.» Es könne sich allerdings ergeben, dass der eine oder andere Senn das Johannesevangelium, den abendlichen Alpsegen vergesse. Das seien die Zeichen der Zeit, fügt der Geistliche an.

Die Alp Aeginen – ein Ort ohne Zukunft? Mitnichten!

Wie im Film deutlich wird, hatte man zur Mitte der 1970er-Jahre also das beklemmende Gefühl, an einem Scheidepunkt zu stehen. Wohin würde sich die Gesellschaft entwickeln und wohin die «lebenserhaltende und lebensnotwendige Form der Hirtenkultur»? Für die Aeginen sah ein alter Einheimischer keine Zukunft: «Das Alpwesen wird ganz eingehen. In Zukunft werden vielleicht noch Schafe auf die Alp getrieben.»

Um die Zukunft der Alpkäserei auf der Aegine sei es schlecht bestellt, konstatiert auch der Sprecher des Films. Sie scheitere an der Rentabilität und an Personal- und Nachwuchsmangel – Probleme, welche die Alpwirtschaft bis heute fordern. Zwar scheine es, dass Aeginen noch zu denjenigen Alpen gehöre, die einen Profit erwirtschafteten. «Aber wie lange noch?», fragt die Stimme aus dem Off bedeutungsschwer.

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«Bis heute», könnte man dem Sprecher zur Antwort geben. Und man könnte anfügen, dass das Alpleben auf der Alp Aeginen bestens funktioniere. Auf Nachfrage der BauernZeitung bestätigt man bei der Gemeinde Goms, dass der Betrieb auf der Alp gut funktioniere, dass sie nach wie vor mit Milchvieh bestossen werde und dass die Alpkäserei erst kürzlich komplett renoviert worden sei. Offenbar ist der Sprung in die «Moderne» auf der Alp Aeginen bestens geglückt.

Das moderne, rationalisierte Gegenbild: Die Alp Frid in Ernen

«Liegt die Zukunft in unseren Alpen etwa bei solchen Musterbetrieben?», fragt der Sprecher des Films, während ein für die 70er-Jahre hochmoderner Alpbetrieb gezeigt wird. Auf der Alp Frid, die zum Gommer Dorf Ernen gehört, wird seit den 60er-Jahren mit einer Anlage gemolken, die Milch «schiesst vom Kuheuter auf der Alp durch eine Pipeline direkt ins Tal».

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Obwohl diese moderne Form der Alpwirtschaft rentabler sei, sei es fraglich, bis wann sich die Alp amortisiere, zweifelt der Sprecher des Films. Und nicht nur das: Der Moderne schien in den 70ern auch die Tradition zum Opfer zu fallen: «Die Technik verschlingt mehr Mittel und der Technik wurde auf dieser Alp, der nichts Idyllisches mehr anhaftet, auch der Alpsegen geopfert.»

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Nüchterner als der Sprecher sah der Walliser Geistliche die Situation: «Eigentlich ist das eine wirtschaftliche Frage. Insoweit, dass das ein wirklicher Fortschritt ist, muss man ja dazu sagen. Man kann allerdings nicht jede Rationalisierung über den gleichen Leisten schlagen: Man muss immer von Fall zu Fall schauen, ob es einen Nutzen bringt – und zwar aufs Ganze gesehen, nicht nur auf das Finanzielle. Aber: Grundsätzlich müssen wir für den Fortschritt sein.»

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Am Ende bleibt eine offene Frage

«Resignation bei den Alten, Optimismus bei den Vertretern einer rationalisierten Alpnutzung. Ein Riss geht durch die Alpentäler: Ist unsere Alpwirtschaft noch zu retten?», fragt der Sprecher am Ende des Films. Zumindest auf den beiden Alpen, die im Film gezeigt werden, wird bis heute mit Erfolg Alpwirtschaft betrieben. Wie auf Aeginen wurde auch auf der Alp Frid kürzlich renoviert, eine Genossenschaft kümmert sich um die Belange der Alp.

Auffällig ist aus heutiger Sicht, wie die Macher des Films zwei Bilder konstruieren und einander entgegenstellen: Auf der einen Seite steht die althergebrachte Alpwirtschaft auf der Alp Aeginen, die durch Abwanderung, Nachwuchsmangel und ausbleibende Rentabilität unter Druck gerät. Sie wird als Hort der Tradition und des Althergebrachten inszeniert, der Halt bietet - aber auch nur ein geringes Auskommen. Auf der anderen Seite steht die Alp Frid, die als risikoreiche Investition, als etwas Modernes, wenig Idyllisches und nicht eben Erstrebenswertes gezeigt wird. 

Zum Glück hat sich die Situation auf den Schweizer Alpen – aller Herausforderungen ungeachtet – in den letzten 50 Jahren nicht so düster entwickelt, wie das die Macher des SRF-Films wohl befürchteten. Und auch der Wegfall der Traditionen und der Verlust an Alpen-Idylle ist nicht gar so schlimm ausgefallen, wie es der pessimistische Unterton des Sprechers glauben machen will – aller Rationalisierung und Modernisierung auf den Alpen zum Trotz.