Sie haben richtig gelesen: der Walensee. In meinem Hühnergegacker vom Frühling schrieb ich über das Wesen, das ich vom Zug aus zwischen zwei Tunneln dem dunklen, kalten Walensee entsteigen sah. Die Geschichte über das «Leben» dort auf dem Seegrund faszinierte die Leserschaft. Besonders Männer schrieben und sagten mir: «Ich erwarte dann eine Fortsetzung!»

Kürzlich war ich in der Gegend, mit dem Auto, etwas östlicher als bei der ersten «Erscheinung», also Richtung Walenstadt. Es war beim Einnachten. Ich betrachtete den See und die Berge am rechten Ufer. Sie schienen direkt, tropfend aus dem Wasser zu wachsen. Spiegelten sich darin in einem Dunkelgrün, das langsam ins dunkle Schiefergrau wechselte.

In den aufragenden Felsen gibt es Eingangslöcher. Wohin die wohl führen? Die Abendsonne schien auf herbstgelbe Büsche, die aus den Felsen wuchsen, und setzte helle Farbtupfer aufs dunkle Wasser. Die Steine waren nur noch teilweise von immer schwächer werdenden Sonnenstrahlen angestrahlt. Das Firmament war in verschiedene Rottöne getaucht; dazwischen hingen dicke, dunkle, schwere Wolken. Es war ein irrealer Zustand. Der See lag total ruhig, total flach, total nichtssagend da. Es wurde dunkler. Möwen flogen lautlos über den See. Liessen sich auf dem glatten Wasser nieder.

Ein Theater in den Wellen

Doch halt: Kräuselte sich dort nicht das Wasser? Wieso verweilten die Möwen dort still; sie, die sonst gerne umherkreischen? Gibt es dort unten ein Amphitheater? Muss fast so sein, denn ich sehe dort in den Wellenbewegungen diese halbrunde Form. Dort sind wohl die Sitzplätze. Gegenüber zeichnet sich eine gerade Linie ab. Das muss die Bühne sein.

Mein Kopftheater setzt sich in Bewegung. Welches Stück wird dort unten aufgeführt? Phaedra, in der griechischen Mythologie die zweite Gattin des Theseus, König von Athen und Enkelin des Sonnengottes Helios. Wird die französische Tragödie in fünf Akten von Jean Racine gezeigt? Oder eine moderne Fassung einer jungen Regisseurin an einem deutschen Theater? Singt der Chor der Ertrunkenen? Agiert ein im Walensee Verschollener als Regisseur?

Aus der Traum

Hat er genügend Schauspieler(innen) zur Seite? Verschwundene Schwimmer, Lebensmüde, Unauffindbare, Bootsausflügler, Crewmitglieder von Ledischiffen? Machen die 46 Opfer des im Jahr 1570 in einer Sturmböe gekenterten Schiffes mit? Und die 13 Betroffenen aus dem Untergang des «Delphins» im Jahr 1850, der wahrscheinlich durch die Explosion des Dampfkessels verursacht wurde? Ich versetze mich so stark in diese unergründliche Szene, dass ich glaube, ich würde selbst mitspielen. Überheblich denke ich, ich trüge die Hauptrolle. Schliesslich habe ich mich in jungen Jahren ausführlich mit ihr befasst.

Als ich gerade dabei bin, Phaedras letzte Worte nach ihrer Vergiftung zu hauchen, höre ich meinen Namen. Jemand ruft mich, nicht Phaedra, sondern Benildis. Wo bin ich? Wieso ist mir kalt? Wieso sitze ich im Dunkeln? Mein Mann Roland tritt zu mir: «Bist du eingeschlafen?», fragt er. «Hast du etwas Schönes geträumt?» Es gibt einen Trost: das Träumen kann man nicht verbieten.