Die steigende Wolfspopulation bedroht die Weidehaltung in Norddeutschland. Bei einer Demonstration auf dem Deich brachte die Landbevölkerung ihre Sorgen zum Ausdruck. Es werden konkrete Massnahmen zur Bestandesregulierung und mehr Zahlungen für Schäden und Herdenschutz gefordert.

Stetiges Wachstum

An einem ausnahmsweise sommerlichen Sonntagvormittag versammelten sich in ganz Niedersachsen besorgte Männer, Frauen und Kinder zum «Aktionstag Wolf», so auch beim Strandzugang zum Nordseebad auf dem Deich in Butjadingen. Dazu aufgerufen hatte ein Bündnis aus Landvolk Niedersachsen, den Landfrauen, der Landjugend, den Junglandwirten und LSV (Land schafft Verbindung) sowie dem Aktionsbündnis Wolf. Seit um das Jahr 2000 die ersten Wölfe über die polnische Grenze nach Deutschland eingewandert sind, ist die Population stetig gewachsen und hat sich von Sachsen bis in zentral und westlich gelegene Bundesländer ausgebreitet. Der Wolf hat mittlerweile Cuxhaven an der Nordsee erreicht.

Im Bundesland Niedersachsen, das flächenmässig etwa mit der Schweiz vergleichbar ist, wurden vor zehn Jahren noch 130 Wolfsichtungen gemeldet, neun Jahre später waren es über 4000. In Deutschland leben über 1500 Wölfe in über 160 Territorien, Tendenz stark steigend. 36 der gemeldeten Territorien sind in Niedersachsen – betroffene Regionen dieses Bundeslands weisen die grösste Wolfsdichte europaweit auf. Von den Naturschützern wird das als Erfolg in Sachen Artenschutz ge-feiert. In den Jahren 2019 bis 2020 wurden in Niedersachsen über 1000 Weidetiere gerissen, deutschlandweit über 3000.

Deich-Demonstration

Auf dem Deich komme ich mit Dirk und seiner Freundin Jutta ins Gespräch. Sie bewirtschaften einen Biobetrieb mit 60 Milchkühen. Für die beiden kommt es nicht in Frage, ihre Tiere im Stall zu lassen, nur um nicht vom Wolf gerissen zu werden. «Ich verstehe nicht, warum der Wolf scheinbar über allem anderen steht», sagt Jutta. Auch die Deichschafe, die durch ihr Fressverhalten und ihren «Goldenen Tritt» für eine dichte Grasnarbe auf dem Deich und somit für Stabilität sorgen, sind vom Wolf bedroht.

Um die Weidetiere zu schützen, werden hohe Elektrozäune mit fünf oder mehr Drähten empfohlen. Zaunmaterial und Herdenschutzhunde für Schafe, Ziegen und Gehegewild werden mitfinanziert, jedoch ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis ungenügend. Um Förderung für Schutzmassnahmen für Rinder oder Pferde zu erhalten, müssen auf dem Betrieb selber oder im Umkreis von 30 km nachweislich drei Rinder bzw. Pferde vom Wolf gerissen worden sein.

Die Schutzmassnahmen sind nicht nur aus arbeitstechnischer Sicht kritisch. Sämtliche Wildtiere werden durch die Zäune ausgesperrt und können sich darin verheddern und verenden. Kommt es zu einem Angriff, gibt es ausschliesslich für nachweislich vom Wolf gerissene Tiere Entschädigungen, nicht aber für durch den Angriff verletzte oder traumatisierte Tiere.

Wolfsverordnung als Rahmen

2020 hat Niedersachsen als erstes Bundesland eine Wolfsverordnung erarbeitet. Darin wird geregelt, welche Massnahmen wo zumutbar sind. «Am Deich hat der Wolf nichts zu suchen», so Niedersachsens Umweltminister. «Ohne die Beweidung von Deichen sind diese nicht zu sichern. Wenn Schäfer dort aufgrund zunehmender Wolfs-angriffe aufgeben, sind viele Menschen der sehr realen Gefahr von Überschwemmungen ausgesetzt.» Gemäss der Wolfsverordnung dürfen Problemwölfe auf Antrag geschossen werden. Die Demonstrierenden fordern eine Bestandesregulierung durch die ordnungsgemässe Jagd, entlang der Deiche wolfsfreie Zonen, Ausgleichzahlungen für alle geschädigten Tiere und eine vollumfängliche Abgeltung aller Herdenschutzmassnahmen.

Zur Person
Sandra Honegger (28) hat an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) Agronomie studiert und ist an die deutsche Nordseeküste ausgewandert. Dort wohnt und arbeitet sie mit ihrem Freund Timo Hussmann auf dem landwirtschaftlichen Betrieb von Henrik und Rita Wefer. Zum Betrieb gehören 90 ha Grünland und 25 ha Ackerland. Der Tierbestand umfasst 130 Holstein-Milchkühe und eine ebenso zahlreiche weibliche Nachzucht. Ausserdem koordiniert sie als Teilzeitjob im Grünlandzentrum Bremen/Niedersachsen Projekte.