Wann, wo und weshalb wurden Ziegen domestiziert?

Ziegen wurden vor über 10 000 Jahren im Zweistromland von Euphrat und Tigris in Vorderasien domestiziert und begleiteten die Sesshaftwerdung des Menschen. Gründe können im Potenzial der Tiere liegen, sich an fast alle Klima- und Vegetationszonen sowie Nutzungsformen erfolgreich angepasst zu haben.

Wo ist die Wild- und Stammform, die Bezoarziege, heute noch heimisch?

Wild lebt die Bezoarziege in Hochgebirgen in Kleinasien, in der östlichen Türkei, im Iran, ostwärts bis Afghanistan und Pakistan sowie nach Norden bis in den Kaukasus. In Europa besiedeln Bezoarziegen einige Inseln der Ägäis.

Ist die Ziege, Capra, mit dem Alpensteinbock, Capra ibex, verwandt?

Grundsätzlich besteht zwischen den «Capra» eine enge genetische Verwandtschaft, was im Falle des Alpensteinbocks rasch zu Problemen der Rassen-Reinerhaltung führen kann.

Lassen sich Steinböcke und Ziegen kreuzen?

Kreuzungen sind zwar eher selten, kommen aber vor und haben gute Überlebenschancen. Um die Reinrassigkeit der Alpensteinböcke nicht zu gefährden, dürfen solche Kreuzungen nicht erfolgen. Allfällig gesichtete Hybride werden bejagt und abgeschossen.

Früher war die Ziege die «Kuh des kleinen Mannes». Wie zeigte sich dies?

Im 18. und 19. Jahrhundert hielten einfache Bauern sowie landlose Städter und Industriearbeiter eine oder mehrere Ziegen. Sie waren kostengünstig und anspruchslos, lieferten jedoch wertvolle Milch und Fleisch. Noch kurz vor 1900 wurden in der Schweiz etwa 450 000 Ziegen gehalten.

Wozu hält man Ziegen heute?

In erster Linie zur Gewinnung von Milch und Fleisch, wobei die Schweizer letztes, wenn überhaupt, nur zu Ostern und Pfingsten essen. Eine alte und neu belebte Nutzungsform für Ziegen ist die Landschaftspflege, also die Offenhaltung von Grünlandflächen, welchen eine zunehmende Verbuschung und Verwaldung droht.Zudem können Ziegen Gebiete als Futterflächen nutzen, welche für die Rinderhaltung ungeeignet sind.

Wie viele Ziegen gibt es in der Schweiz und weltweit?

Im Jahr 2021 wurden gemäss Bundesamt für Statistik in der Eidgenossenschaft insgesamt 82 184 Ziegen und Zwergziegen als Nutztiere gehalten. Weltweit spricht man von über 600 Millionen. Diese Zahl zeigt die enorme weltweite Bedeutung der Ziegen, werden doch rund 90 Prozent nach wie vor in Entwicklungsländern gehalten.

[IMG 2]

Welches sind typische Schweizer Ziegenrassen?

Saanenziege, Toggenburgerziege, Appenzellerziege, Gämsfarbige Gebirgsziege, Bündner Strahlenziege, Nera Verzasca und Walliser Schwarzhalsziege. Hinzu kommt seit einiger Zeit als achte einheimische Rasse die Pfauenziege dazu, deren Bestand gerade noch vor dem Aussterben gesichert wurde. Mittlerweile gibt es weitere Rassen in der Schweiz wie die Burenziege oder die Stiefelgeiss, ob sie für die Schweiz typisch sind oder nicht, ist oft eine Interpretationssache oder Liebhaberangelegenheit.

Heute heisst es, die Schweiz sei «die Wiege der Ziege». Wie kam es zum Erfolg gewisser Rassen?

Schweizer Ziegenhalter setzten schon im 19. Jahrhundert auf eine gute Milchleistung, was zur Bekanntheit und zum Absatz von Ziegen in zahlreichen Ländern beitrug. Nach 1938 ging die systematische Tierzucht tatsächlich mit einer weiteren Leistungssteigerung einher. Zeitgleich wurden viele Anstrengungen unternommen, um Gesundheit, Fruchtbarkeit, Genetik und Zuchtbuchführung der Tiere zu optimieren.

Auf Englisch gibt es den Ausdruck «Swiss Markings» für die Zeichnung von Bündner Strahlenziegen und Toggenburger Geissen. Was ist das?

Bündner Strahlenziegen und Toggenburgerziegen haben längliche weisse Strahlen am Kopf. Als «Swiss Markings» sind diese Abzeichen ein optisches Echtheitszeichen der Rassen im Ausland.

Was zeichnet Schwarzhals, Kupferhals, Grüenochte und Capra Sempione aus?

Die Schwarzhalsziege ist vorne schwarz und hinten weiss. Bei der Kupferhalsziege ist das Haarkleid im Vorderabschnitt des Körpers kupferfarben statt schwarz. Die «Grüenochte Geiss» ist vorne grau-schwarz-weiss meliert und Capra Sempione ganz weiss. Typisch für diese vier Walliser Rassen ist das langhaarige, zottelige Fell und die mehrheitlich beeindruckenden Hörner.

Haben die Glöckchen eine Funktion?

Die behaarten, meist paarweisen Glöckchen sind im Kehlbereich von domestizierten Ziegen zu finden. Ziegen-Wildformen tragen keine Glöckchen. Man vermutet, dass es sich um ein anatomisches Merkmal handelt, welches ein Produkt der Züchtung ist. Zunächst nahm man an, dass es sich um rudimentäre Drüsen handelte. Aber die Hautsäckchen setzen sich aus Bindegewebe, Knorpel, Muskulatur und Nerven zusammen, jedoch nicht aus Drüsengewebe. Eine eindeutige biologische Funktion konnte bisher nicht nachgewiesen werden.

Sind Ziegen aggressiv?

Es wäre vermessen, diese Frage mit nein zu beantworten. Nur hat die Aggressivität meist ihren guten Grund. So hört der Spass für Ziegen bei Rangkämpfen, Revierbehauptungen, Paarungsvorrecht und Futtereid rasch auf. Aber auch dieses aggressive Verhalten wurde als Überlebensstrategie erblich erworben.

Wie reagieren Ziegen auf Menschen?

Ziegen reagieren gegenüber dem Menschen interessiert, neugierig, empfindsam und auch sehr sensibel. Unsachgemässer oder gar grober Umgang mit ihnen führt rasch zu Unsicherheit, Scheu, Ablehnung oder gar Aggressivität. Man sagt auch: «Die Ziege sucht sich ihren Halter aus, nicht umgekehrt.»

Bitte beschreiben Sie den Charakter von Ziegen.

Ziegen sind kluge, sensible, anpassungsfähige und liebesbedürftige Tiere. Verfügen sie über eine grosse Bewegungsfreiheit, sind sie sehr vital, aktiv, neugierig und verspielt. In gewissen Situationen reagieren sie eigenwillig, gereizt oder angriffig. Jede Ziege hat grundsätzlich einen individuellen Charakter, der durch das Verhalten der Mutterziege und der Herdenmitglieder im Laufe der Entwicklung mitgeprägt wird.

Sollte man Ziegen enthornen?

Ich sage nein! Hörner sind zwar die Stirnwaffen der Ziege, welche bei Kampf und Verteidigung im Hornstoss eingesetzt werden, dennoch gehören sie zum Tier, sofern es eine horntragende Rasse ist. Hörner dienen denn auch der Körperpflege und Erleichtern die Entlaubung von Büschen oder Ästen.

Warum wird enthornt?

Das Argument Enthornen kam ins Spiel, als man begann, Ziegen in Gruppenhaltung und vermehrt in Laufställen zu halten. Dort besteht die Gefahr, dass Tiere oder Menschen durch Hornstösse verletzt werden können. Trotz eines gewissen Aufwandes lassen sich Stallungen und die Haltung von Ziegen diesen Gegebenheiten durchaus anpassen, wonach sich die Gefahr minimieren lässt.

Was fressen Ziegen?

Ziegen fressen in erster Linie Rau- oder Grobfutter. Auf der Weide sind das Gras, Klee, Kräuter, Blätter und Rinden von Büschen, Sträuchern und Bäumen. Im Winter ist es getrocknetes Raufutter wie Heu oder Emd oder siliertes Futter wie Grassilage. Zusätzlich brauchen Ziegen ganzjährig vitaminisierte Mineralsalzmischungen und Viehsalz sowie täglich frisches und genügend Wasser.

Ziegen gehören wie Schafe zu den Kleinwiederkäuern. Sie sind verwandt miteinander?

Ziegen und Schafe weisen einen sehr hohen Verwandtschaftsgrad auf. Beide Tierarten gehören zum Stamm der «Caprovinae», weisen aber eine unterschiedliche Chromosomenzahl auf; bei Ziegen sind es 60 Chromosome, bei Schafen 54.

Wie unterscheiden sich Ziegen und Schafe?

Die Wildformen von Schaf (Mufflon) und Ziege (Bezoarziege) sind betreffend die Farbe des braun-schwarzen Haarkleids, des ähnlichen Körperbaus und der Behornung oft schwer zu unterscheiden. Bei domestizierten Schafen und Ziegen fällt das wesentlich leichter. So haben Ziegen einen kürzeren Schwanz als Schafe.

Zur Person
Marc Boessinger ist Agronom und leitete bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2020die Gruppe Tierhaltung bei AGRIDEA. Zudem ist er seit über 25 Jahren Dozent für Tierernährung an der ETH Zürich.

[IMG 3]

Wie alt können Ziegen werden?

Rund 15 bis 18 Jahre alt. Bei guter Haltung und Pflege, in artgerechter Umgebung steigt die Lebenserwartung. Bis zu einem Alter von 15 Jahren kann man es noch an der Abnutzung der Zähne ablesen. Ein Ziegenjahr entspricht etwa fünf Menschenjahren, womit wir uns immerhin bei 75 bis 90 Menschenjahren bewegen.

Sehen Ziegen gut?

Dank ihren horizontalen Pupillenschlitzen verfügen Ziegen über ein weites Gesichtsfeld und eine weite Rundumsicht von zirka 270 Grad. Auch bei sonnigen Tagen ermöglicht eine vertikal erfolgende Verengung der Pupille der Ziege sehr gute Sichtverhältnisse. Das ist für Ziegen als Fluchttiere, die stets auf der Hut sind, von grossem Vorteil.

Warum leuchten die Augen im Dunklen?

Neben Katzenaugen haben auch viele andere, vor allem nachtaktive Tiere, eine Art Lichtverstärker «Tapetum lucidum» im Auge. Das ist eine reflektierende Schicht hinter der Netzhaut, die wie ein Rückstrahler wirkt, womit die Tiere, auch Ziegen, bei schwachem Licht wesentlich besser sehen als wir Menschen.

Meckern Ziegen je nach Stimmung unterschiedlich?

Eine Studie von 2010 bestätigte, dass Ziegen anhand von Lautäusserungen erkennen können, ob Artgenossen zufrieden oder verstimmt sind. Die Forscher hatten zuvor entdeckt, dass Ziegen ihre Gefühle über ihre Stimme ausdrücken können. Daraufhin beschloss ein grösseres Team, der Frage nachzugehen, ob andere Ziegen diese Gefühle auch erkennen können.

Wie steht es um ihren Geruchssinn?

Ziegen haben einen ausgeprägten Geruchssinn. Dazu dient ihnen nicht nur die Riechschleimhaut, sondern zusätzlich das sogenannte jacobsonsche Organ. Dies ist ein kleiner Kanal hinter den Schneidezähnen im Gaumen, der bis zur Nasenhöhle reicht.

Und wie um ihren Geschmackssinn?

Ziegen können süss, sauer, salzig und bitter unterscheiden. Gegenüber Bitterstoffen und pflanzlichen Gerbstoffen wie Tanninen haben Ziegen eine hohe Toleranz, weshalb sie zum Beispiel Tannenäste gerne verzehren. Eine besondere Vorliebe haben sie für den Salzgeschmack.

Warum stinken Ziegenböcke dermassen?

Verantwortlich für den stinkenden Geruch sind hauptsächlich die Horndrüsen, die als Ansammlung grosser Talgdrüsen hinter dem Hornansatz zu finden sind. Diese scheiden das streng riechende beziehungsweise für uns Menschen stinkende Sekret aus. Obwohl sich der Bock zur Brunftzeit mit seinem Urin an Beinen, Kopf und Hals bespritzt, hat dies kaum oder nur sehr wenig mit dem typischen Bockgeruch zu tun.

Ziegen gelten als soziale Tiere. Wie äussert sich das?

Ziegen sind sozial lebende Tiere. Sie leben in kleinen Rudeln, die jeweils aus Muttertieren mit ihren Jungtieren zusammengesetzt sind. In der Urform und bei wild lebenden Ziegen sind alle Mitglieder einer Herde mütterlicherseits miteinander verwandt.

In welchem Alter sind Geissen erstmals bockig?

Bei den Hausziegen variiert die Geschlechtsreife zwar zwischen den Rassen, liegt aber im Durchschnitt der Milchziegenrassen bei rund acht Monaten.

[IMG 4]

Wie viele Junge bekommt eine Geiss?

Ziegen der Robustrassen haben häufig nur ein Gitzi. Dennoch haben sie zwei Zitzen, womit Zwillingsgeburten möglich sind. Hausziegen oder milchbetonte Rassen haben gewöhnlich ein bis zwei Gitzi, selten treten auch Drillingsgeburten auf.

Wie lange trinken Gitzi bei der Mutter?

Sie saugen in der Regel bis zu fünf Monate. Danach entwöhnen die Ziegenmütter ihren Nachwuchs selbst, indem sie ihn zunehmend weniger zulassen und sich letztlich selber trocken stellen. Zwischenzeitlich nehmen die Gitzi ab der zweiten Lebenswoche nach und nach mehr feste Nahrung auf.

Wie erkennen Geissen ihre Gitzi in einer grossen Herde?

Das Gitzi hält bereits beim ersten seitlichen Saugen sein Hinterteil zum Kopf der Mutter, die es beriechen kann. Ein Schwanzwedeln wedelt auch Duftstoffe zur Mutter, wonach sie das Gitzi rasch am Geruch erkennt und später eindeutig identifizieren kann. Zudem erkennt die Mutterziege ihr Gitzi durch das Aussehen, der Zeichnung am Kopf und an der Stimme, wenn es meckert. Umgekehrt ist das Gitzi etwa nach der ersten Lebenswoche in der Lage, seine Mutter durch deren Laute und am Geruch zu erkennen.

Wie sieht eine Gitzi-Kinderstube aus?

In den ersten zwei Lebenswochen kümmert sich die Mutter sehr darum, dass ihr Junges genügend oft am Euter trinkt. Die Gitzi bilden untereinander Lämmergruppen, tollen herum und liegen beieinander. Man nennt das oft «Kindergärten», wenn sie miteinander spielen und ruhen.

Haben die Spiele auch einen Zweck?

Das Spielen beruht auf dem gegenseitigen Erkunden der Stalleinrichtung und im Interesse an allem und jedem. Dazu werden auch erste Sprünge, erstes Kopfstossen, Kräftemessen, hüpfen, rennen und klettern ausprobiert. Und es geht darum, alles zu kopieren, was das andere Gitzi jeweils zum Besten gibt. Es geht wahrlich sehr fröhlich zu und her und hat noch kaum etwas damit zu tun, die Herdenhierarchie untereinander auszuloten.

Wie ist das Gefüge in einer Herde?

Der Herdenverband ist grundsätzlich locker, die Beziehung innerhalb von Teilgruppen kann jedoch sehr intensiv sein. Hier liegen jene Tiere beisammen, die sich gut kennen und mögen. Ziegen weisen aber auch stark individuelle Züge auf. Einzeltiere entfernen sich und gehen auf eigene Futtersuche, aber selten weit weg von der Herde.

Wann und wie kämpfen Ziegen?

Rangkämpfe finden zwischen männlichen Tieren, vor allem Jungböcken, immer wieder statt, mal als Spiel oder Training und zur ersten Deckzeit mit ernstem Hintergrund. Zum Kampf schieben und stossen sich die Böcke entweder Kopf an Kopf oder stellen sich auf die Hinterbeine und stossen hart mit den Köpfen zusammen. Das wiederholt sich, bis einer aufgibt. Es kann auch sein, dass zwei oder mehr Böcke einen andern bekämpfen. Meist gewinnt das schwerere, ältere und grössere Tier. Auch wenn weibliche Ziegen gerne kämpfen, ist der Kampf nie so heftig wie bei den Böcken.