Eine Katastrophe sei das mit Loki gewesen. Seit 25 Jahren halte er Hunde, ein so ungestümes und dominantes Exemplar wie der schwarze Mischling sei ihm noch niemals untergekommen, sagt Daniel Berset. Aus der Männergruppe, die sich an diesem Dienstagnachmittag auf dem Bieler Bahnhofplatz zusammengefunden hat, um zu plaudern und gemeinsam Bier zu trinken, stechen die beiden sofort heraus – Hund wie Halter sind stattliche Erscheinungen. Die Welpen waren als Labradormixe aus-geschrieben, erzählt Berset.

Die breite Kopfform und der kräftige Körperbau hätten ihn sofort begeistert, er vermute, der eine Elternteil sei ein Cane Corso. Ein massiger Hund, der in einigen Kantonen als Listenrasse geführt wird. Ausgewählt habe er natürlich das grösste Exemplar vom ganzen Wurf, so Berset. Die Anschaffung des Welpen war ein Luxus. Das ist sich der Mann in Totenkopf-T-Shirt und ausgebeulten Trainerhosen bewusst. Denn eigentlich reicht das Geld vom Sozialamt nicht, um sich ein Haustier zu halten. Doch der Hund bedeute ihm alles, sagt Daniel Berset, während er seinem Loki zärtlich über den Rücken streicht. «Ohne ihn wäre ich noch in den Drogen und würde weiss nicht wo hangen.»

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Ein Suchtproblem hatte den Bieler vor Jahren in die Sozialhilfe abrutschen lassen. Vielen Personen am Rande unserer Gesellschaft sind Tiere eine grosse Stützte, die Sinn und Struktur geben. In der ehemaligen Industriestadt Biel leben nach wie vor schweizweit am meisten Personen von der Sozialhilfe. Entsprechend viele Tiere können hier aus finanziellen Gründen oder wegen der schwierigen Lebensbedingungen ihrer Besitzerinnen nicht optimal versorgt werden.

So erging es auch Daniel Berset mit seinem Jungspund Loki. Ihm war klar, dass regelmässiges Impfen und Entwurmen für die Gesundheit seines Hundes unerlässlich ist und dass nur eine Kastration Loki umgänglicher machen würde. Für eine solche Operation und die dringend benötigten Impfungen müssen jedoch einige Hundert Franken auf den Tisch des Tierarztes geblättert werden, dies meist im Voraus. Für Daniel Berset schlicht unmöglich.

Impfen auf dem Bürotisch

Bruno Lötscher ist einer von wenigen Tierärzten, die heutzutage noch auf Rechnung behandeln. Bereits während des Studiums sei er von Pfarrer Siebers Tiersozialhilfe fasziniert gewesen, sagt der Brienzer mit den wachen Augen und dem besonnenen Lächeln. Nun habe er die Möglichkeit, selber etwas auf die Beine zu stellen. Sein Engagement für Tiere, unabhängig davon, in welcher Situation sich der Halter befindet, geht weit über die Inrechnungstellung der Behandlungen hinaus.

Alle zwei bis drei Monate organisiert die SUST in Biel und weiteren Städten gemeinsam mit Partnertierärzten Gesundheitschecks und eine Grundversorgung für Kleintiere von Sozialhilfeempfangenden. Jeder bezahlt für die Impfung, Entwurmung oder Parasitenbehandlung so viel, wie er gerade aufbringen kann, auch wenn das nur ein Fünfliber ist. Zudem gibt die Tierschutzorganisation gratis Futter ab.

«Ohne meinen Loki wäre ich noch immer in den Drogen.»

Daniel Berset, Sozialhilfeempfänger

Das Team der Tierarztpraxis Lötscher wendet jeweils einen ganzen Tag auf, bis das Material für den Einsatz zusammengestellt und im weissen Jeep verstaut ist. Währenddessen greifen die SUST-Mitarbeiterinnen unzählige Male zum Telefonhörer und versuchen, eine verbindliche Patientenliste zusammenzustellen. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Einige Tierhalter sind nur schwer erreichbar, andere tauchen nicht zum vereinbarten Termin auf und dann gibt es noch diejenigen, die unangemeldet in die Sprechstunde platzen.

Am Behandlungstag rückt das sieben köpfige Team Tische zusammen, schiebt Mobiliar zur Seite, legt Plastikhandschuhe, Belohnungsleckerli sowie Spritzen bereit und verwandelt so den Gemeinschaftsraum des Bieler Gassentreffs in eine improvisierte Tierarztpraxis. Hier empfangen sie an einem Aktionstag 20 Tiere. Meist handelt es sich bei den Patienten um Hunde und Katzen, manchmal auch um Zwergkaninchen, Hamster oder Kanarienvögel. Die Nachfrage für die Sprechstunden wird immer grösser und die SUST ist bemüht, neue Standorte aufzubauen.

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«Ich musste mega staunen, als ich mit Loki das erste Mal in diese improvisierten Praxis kam», sagt Daniel Berset. Auf das Projekt aufmerksam gemacht hätten ihn Sozialarbeitende der Gassenarbeit Biel. Schnell habe er gemerkt, dass hier Profis am Werk sind, denen er seinen Hund anvertrauen kann. So unmittelbar wie Daniel Berset fassen jedoch nicht alle Klienten Vertrauen. Es kommt vor, dass ein Tierhalter minutenlang mit zu Boden gesenktem Blick im Raum umherschleicht und kein Wort sagt.

Dann erst rückt er damit heraus, dass sein Hund vor einem Jahr unters Auto gekommen sei und wohl das Bein gebrochen habe. Manchmal stellen die Besucherinnen abstruse Fragen und das Sprechstundenteam bekommt erschreckende Bilder zu sehen, so Tierarzt Bruno Lötscher. Dermassen dramatische Szenen spielen sich ab, dass es manchen Helferinnen den Appetit für das Mittagessen verschlägt. «Wichtig ist aber, nicht über die Menschen zu urteilen,Kritik ist hier fehl am Platz.»

Mehr spannende Artikel rund um Tiere und die Natur?Dieser Artikel erschien in der gedruckten Ausgabe Nr 02/2023 vom 26. Januar 2023. Mit einem Schnupperabo erhalten Sie 6 gedruckte Ausgaben für nur 25 Franken in Ihren Briefkasten geliefert und können gleichzeitig digital auf das ganze E-Paper Archiv seit 2012 zugreifen. In unserer Abo-Übersicht  finden Sie alle Abo-Möglichkeiten in der Übersicht.

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Tragik und Dankbarkeit

Hemmungen habe er absolut nicht, von diesem Angebot Gebrauch zu machen, sagt Daniel Berset. Es geht ja schliesslich um das Tier. Nicht nur Reiche sollten sich medizinische Versorgung für ihre Vierbeiner leisten können. Loki erhielt endlich die obligatorische Impfung und Daniel Berset eine Beratung zur Kastrationsfrage. Solche grossen Operationen, oder Zahnbehandlungen und Euthanasierungen kann Bruno Lötschers Team nicht in Biel durchführen. Dazu besteht ein Anschlussprojekt an der Kleintierklinik der Vetsuisse Fakultät der Universität Bern. Auch hier ist es die Susy Utzinger Stiftung, die sich um die Finanzierung kümmert.

Profitieren können auch die Studierenden, die so nicht nur Erfahrungen im Operationssaal, sondern auch im Umgang mit Menschen in aussergewöhnlichen Situationen gewinnen. «In diesem Projekt behandeln wir nicht nur Tiere, sondern auch Menschen», weiss der Tierarzt. Oft gehen die tragischen Situationen nahe. Etwa dann, wenn sowohl Hund als auch Halter in verwahrlostem und fehlernährtem Zustand auftauchen oder wenn jungen Katzen anzusehen ist, dass noch unzählige gesundheitliche Probleme auf sie zukommen werden, weil sie vollkommen überzüchtet sind. Da es den Besitzern unmöglich ist, für ihr eigenes Wohlergehen zu sorgen, wird es ihnen auch kaum gelingen, die Pflege ihrer Tiere richtig zu händeln.

«Wichtig ist, nicht über die Menschenzu urteilen.»

Bruno Lötscher, Tierarzt

Daniel Berset hingegen händelt seinen Loki mittlerweile ohne Probleme. Der viereinhalbjährige schwarze Mischling ist dank den regelmässigen Besuchen beim Gassentierarzt gesundheitlich in Topform. Ohne Angst, dass es zu gefährlichen Situationen kommen könnte, kann Daniel Berset seinen Partner nun überall hin mitnehmen. Das ist wichtig, denn Loki ist immer an seiner Seite. Solche positiven Entwicklungen sind für Bruno Lötscher schön zu sehen. Besonders berührt habe ihn ein Hund, der nur mit Bananen gefüttert wurde. Nach der Beratung beim Tierarzt erhält er richtiges Futter und sieht bei jedem Besuch in der Gassensprechstunde besser aus.

Sogar sein Besitzer wirkt von Mal zu Mal gesünder und gepflegter. Das Angebot soll nachhaltig wirken und die Mensch-Tier-Teams über längere Zeit begleiten. Solche positiven Entwicklungen zu sehen und die grosse Dankbarkeit zu spüren, ist für das Behandlungsteam schön. Dessen Aufwand ist auch auf administrativer Ebene gross. Viele der präsentierten Hunde sind nicht korrekt registriert und somit illegal in der Schweiz. «Die Leute zu ermahnen, diese Formalitäten selber zu erledigen, bringt nichts, das müssen wir direkt mit ihnen anpacken», so der Tierarzt. Für den anfallenden Papierkram muss das Team aus Brienz gut zwei Tage zur Nachbereitung einplanen.

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Die Mühe lohnt sich. Gäbe es keine solchen kostenlosen Sprechstunden, würden viele Tiere kaum medizinisch versorgt und Halter nicht über den artgerechten Umgang mit den Vierbeinern aufgeklärt. Schlimmsten-falls könnte es dazu kommen, dass Tiere aufgrund schlechter Haltung der Besitzerin weggenommen werden. Das Gassentierarztprojekt ist nicht nur ein Engagement für finanziell benachteiligte Tierhalter und deren Vierbeiner, sondern eine gute Tat an der Gesellschaft.

Diese Tiere übernehmen nämlich eine therapeutische Funktion und bieten ihren Haltern eine psychische Stütze. Ohne diese würden sie womöglich aus der Spur fallen und müssten in einer Institution behandelt werden. «Ohne ihre Tiere hätten viele meiner Kollegen aufgegeben und wären durchgedreht», sagt Daniel Berset.