Erika Rebsamen geht häufig in die Brennnesseln. Nicht, um sie auszureissen, sondern um zu ernten. Gerade sitzt sie wieder in den Nesseln, ein Bierbrauer hat vier Kilogramm bestellt. Er wird sie in einem riesigen Teebeutel in den Sud hängen und ihn damit aromatisieren. Nicht nur der Rohstoff, auch die Idee stammt von Erika Rebsamen.

«Ich habe fast zu viele Ideen», sagt sie, während sie sich zügig durch das Nesselbeet arbeitet und die obersten Triebe mit blossen Händen abzwickt. Sie spürt den leicht ungläubigen Blick der Besucherin und zeigt ihre Handflächen: Die sind kein bisschen gerötet. «Vielleicht ist es Einstellungssache, ich weiss, dass es guttut», sagt der bekennende Brennnessel-Fan. «Die Stoffe, die das Brennen auslösen,regen die Durchblutung an. Die Brennhaare schützen die Nessel vor Frassfeinden. Gut so, sonst wäre sie schon längst ausgerottet.»

Der Vermieter schluckte leer

Erika Rebsamen wohnt mit ihrem Mann in einem Bauernhaus in Stans, der Vermieter ist Landwirt. Er schluckte leer, als sie ihn um einen Pflanzblätz für Brennnesseln bat. Doch er weiss, dass diese Frau ein gutes Händchen für Kräuter hat. Also zäunte er eine Ecke seiner Milchviehweide aus und sie pflanzte 560 Setzlinge.Die sind prächtig angewachsen, doch jetzt wirbelt die Bise eiskalte Regentropfen um ihre Blätter. Erika Rebsamen bringt ihren Pflückkorb ins Trockene und bittet in die «Kreativ- und Chrüterwärchstatt», ihre Schatzkammer in einem Anbau des Bauernhauses.

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Auf dem Tisch steht der Beweis, dass sie das Beste aus ihren Kräutern holt: ein sattgrüner Kräuter-Apfeldrink, mit Blütenzucker garniert. Daneben ein Apéroplättchen mit Brennnessel-Sablés und Kräuterquark, frittierten Nesselblättern und Löwenzahnkapern. Schmeckt fein, sieht toll aus. «Und ist gesund», erklärt die 57-Jährige. «Brennnessel enthält extrem viele wertvolle Inhaltsstoffe. Wie zahlreiche andere sogenannte Unkräuter.»

Den Job beim LBV gekündigt

Sie war 50 Jahre alt, als sie ihre Stelle beim Luzerner Bäuerinnen- und Bauernverband kündigte, ihren langjährigen Lebenspartner heiratete und einen fünfmonatigen Tapetenwechsel im Safiental antrat, um in einem Bed & Breakfast zu arbeiten und die Pflanzenwelt zu studieren. Ein bisschen viel Veränderung auf einmal, meinten Stimmen aus ihrem Bekanntenkreis, aber für sie war es genau richtig. «Mir hat je länger je mehr etwas gefehlt», erinnert sie sich an ihr früheres Arbeitsleben, «ich spürte einfach, dass da noch mehr sein könnte.» Sie hatte Typografin gelernt und Ausbildungen als Eventmanagerin und Webdesignerin angehängt.

Es braucht heute noch Mut

Der Schritt in die Selbstständigkeit habe Mut gebraucht, «braucht es heute noch», sagt Erika Rebsamen mit Verweis auf das unregelmässige Einkommen, das es nur bei vollem Einsatz gibt. «Aber es lohnt sich. Hier kann ich meine Talente kombinieren.» Viel Kräuterwissen hat sie sich in einem Lehrgang als Phytopraktikerin erworben, vieles durch Erfahrung.

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In ihrer Werkstatt und an regionalen Stellen verkauft sie Kräuterprodukte, alles handgepflückt aus eigener Ernte, getrocknet auf dem Dachboden, verarbeitet im Atelier. An Anlässen und Workshops bekocht sie Gäste oder leitet sie bei der Herstellung von Kräuterprodukten an, dazu gibt es Führungen durch den Garten. «Ich liebe es, Gäste zu betreuen.» Mit ihren Naturfotos kreiert sie Spruchkarten, sie fotografiert Hochzeitsreportagen und hat ein Kuhbüchlein, kombiniert mit Pflanzenwissen, herausgegeben. Wer die BauernZeitung liest, kennt sie zudem als Kräuter-Kolumnistin.

«Aerikis Kreativ- und Chrüterwärchstatt» legt einen perfekten Auftritt hin, von der Produkteverpackung über die Etiketten bis zur gesamten Website. Da war keine Agentur am Werk: Erika Rebsamen hat alles selber fotografiert, designt, getextet. Mit diesen Talenten könnte sie sich online gut verkaufen, aber abgesehen von der Website bewegt sich die Kräuterfrau nicht auf den Sozialen Medien. Denen stehe sie skeptisch gegenüber, das habe auch mit Selbstschutz zu tun, sagt sie nachdenklich.

Kräuter brauchen Leitplanken 

Gerade schickt das Aprilwetter einen Sonnenstrahl durchs Fenster und Erika Rebsamen lädt in ihren Garten. Salat wächst und Ringelblumen blühen, der Malvenstock hat kräftig ausgetrieben. Prächtig gedeiht auch das Unkraut, pardon, wertvolle Pflanzen wie Vogelmiere und Giersch, die Erika Rebsamen in einem Teil des Gartens in Schach hält. «Sie brauchen Leitplanken, wie Kinder.» Diese schätzen ihre direkte, fröhliche Art genauso wie Führungskräfte von Firmen und ihre übrige vielseitige Kundschaft.

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«Rebsamen, sei so, wie du bist, dann kommt es gut», hat sie im Umgang mit Menschen erfahren. Die lassen sich gerne mitziehen von der Energie und Lebensfreude der Kräuterfrau, die immer einen guten Spruch auf Lager hat und auch locker einsteckt. «Dein Mann tut mir leid», sagte einmal ein Schüler an einem Kräuterkochkurs zu ihr, «der bekommt wohl nie Fleisch.» Sie erzählt es und lacht herzhaft. Sicher gibt es auch Fleisch. Ihre Kräuterküche hat nichts mit Verzicht zu tun, sondern mit Genuss.

Erika Rebsamens Website: https://aeriki.ch/