Pro: Die Akzeptanz für neue Nationalparks wird steigen

Der Ausbauboom von alpinen Energieanlagen führt in wenigen Jahren zu einer industriellen Verbauung alpiner Lebensräume und Landschaften. Die Expressgesetzgebung im Bereich PV-Freiflächenanlagen vom September 2022 hat die bewährten Planungs-und Mitwirkungsverfahren ausgehebelt und die Interessenabwägung bereits vorweggenommen. Mit massiven Subventionen werden nun, wo immer der Grundeigentümer und die Gemeindebehörde einverstanden sind, Grossprojekte vorangetrieben. Kommt dazu, dass mit diesem rechtsstaatlich fragwürdigen Gesetzesstreich die Versorgungssicherheit keineswegs erbracht werden kann.

Mehrere Quadratkilometer werden geopfert
Für die prognostizierten 2 TWh, die mit dem dringlichen Solarbeschluss erzeugt werden sollen, müssen mehrere Quadratkilometer Fläche geopfert werden. Schliesslich soll auch für den Zubau von Wasser- und Windkraft der Natur- und Landschaftsschutz zurückstehen müssen. Was bedeutet dies für die alpinen Landschaften? Es ist zu befürchten, dass die grossflächigen infrastrukturfreien Landschaften im Alpenraum immer rarer werden. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob im Sinne eines Ausgleichs zu diesem grossflächigen Landschaftsverbrauch nicht die Planung neuer Nationalpärke wieder an die Hand genommen werden müsste. Die SL will diesen Dialog in Form eines runden Tischs in Gang bringen.

Neue Nationalparkkategorie erlaubt Landwirtschaft
Wir erinnern uns: Im Juni 2018 ist der letzte Kandidat für einen Nationalpark, das Locarnese, gescheitert, dies mit gerade mal 109 Stimmen Unterschied in den Gemeindeabstimmungen. In der neuen Nationalparkkategorie wären wie für die bisherigen Projekte die herkömmliche Landwirtschaft weiterhin möglich, sogar in den Kernzonen. Unzulässig wären aber hingegen Grosskraftwerke.

Keine verbaute Landschaft hinterlassen
Während der Ausbau erneuerbarer Energieanlagen vorangetrieben wird, droht mit der Flut von Projekten im hochalpinen Gebiet der Landschafts-, Gewässer- und Naturschutz auf der Strecke zu bleiben. Angesichts dessen glaube ich, wird die Akzeptanz für neue Nationalpärke in der Bevölkerung ansteigen. Die SL fordert daher eine breite Diskussion zur Wiederaufnahme eines Nationalparkförderprogramms. Wir dürfen unseren künftigen Generationen nicht einfach nur verbaute Gewässer, Alpwiesen und Bergketten hinterlassen!

Raimund Rodewald ist Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL).


Kontra: Das Berggebiet soll kein Freiluftmuseum werden

Im Kanton Graubünden haben wir mit dem Gründungsjahr 1912 den ältesten Nationalpark innerhalb des europäischen Alpenbogens. Der Nationalpark erstreckt sich im Unterengadin über eine Fläche von 170 km2 und steht unter absolutem Schutz. Das heisst, die Grünflächen werden nicht landwirtschaftlich genutzt, der Wald wird nicht zur Holzgewinnung gepflegt und das Wild wird nicht gejagt. Die Nationalparkbesucher dürfen sich nur auf vorgegebenen Wegen fortbewegen. Kurz gesagt: Der Nationalpark ist ein Freiluftmuseum, wo in Ruhe geschaut, aber nichts angefasst, geschweige denn genutzt werden darf.

Weitreichende Folgen von Nationalparks
Genau an diesem Punkt sollten die Alarmglocken der Rand- und Bergregionen klingeln. Ein Aufenthalt im Nationalpark Engadin mag vielleicht aus touristischer Perspektive ein Erlebnis sein. Aber gleichzeitig muss uns bewusst sein, dass durch das Ausscheiden weiterer Nationalpärke viele Alpen und landwirtschaftliche Nutzflächen nicht mehr zur Produktion von Milch und Fleisch genutzt werden könnten, die Holzgewinnung noch stärker vom Ausland abhängig gemacht würde und der Tourismus in diesen Gebieten stark eingeschränkt bzw. in grossen Teilen ganz verboten würde. Dies wiederum würde sich eins zu eins auf den Verlust der Arbeitsplätze in dezentralen Gebieten auswirken und somit die Zentralisierung in Ballungsgebieten weiter stärken.

Der Mensch sorgt für Biodiversität  
Des Weiteren muss man sich die Frage stellen, ob der Verzicht auf menschliche Aktivitäten, sprich der Verzicht auf Land- und Holzwirtschaft, auch tatsächlich die gewünschten Biodiversitätseffekte hervorrufen würde. In diesem Zusammenhang wurde soeben in der Fachzeitschrift «Nature Communication» am Fallbeispiel des Berner Oberlandes wissenschaftlich belegt, dass die heutige hohe Vielfalt von Pflanzengemeinschaften und -arten in der alpinen Landschaft auf den Menschen zurückzuführen ist. Durch den Beginn der Alpwirtschaft, welche bis vor Beginn der Bronzezeit (2200 bis 800 v. Chr.) zurückgeht, wurde der Wald zunehmend zurückgedrängt, und dementsprechend konnten sich neue ökologische Nischen und Lebensräume entwickeln.

Für das Überleben der Berggebiete ist es von grösster Bedeutung, dass die abgelegenen Siedlungen durch eine regionale Produktion und einen gesunden Tourismus erhalten bleiben – und nicht zu einem Freiluftmuseum verkommen.

Thomas Roffler ist Präsident des Bündner Bauernverbands.