Interview mit Urs Kiener

Herr Kiener, wir wurden früher manchmal gehänselt. Was hingegen ist Mobbing? 

Urs Kiener: Mobbing ist ein relativ junger Begriff, zirka 20-jährig. Mobbing ist eine Machtdemonstration und bedeutet so viel wie jemanden schikanieren, übel anpöbeln, mit dem Ziel, das Opfer auszugrenzen und zu schädigen. Mobbing geschieht in der Gruppe, mit einem Anführer und Mitläufern. Dadurch sind Mobber immer in der Überzahl. Ein Opfer wird fertigmacht, indem man lästert, Lügen und Gerüchte verbreitet, es erpresst, beklaut oder quält. Einen konkreten Grund dafür gibt es selten. In der Pubertät werden beispielsweise viele Kinder wegen Akne gemobbt. Manchmal passiert Mobbing aus reiner Langeweile oder einfach nur, damit man sich wieder einmal stark fühlt. 

Mobber haben oft kein gesundes Selbstwertgefühl und wählen Kinder aus, die anders sind, beispielsweise ADHS oder Migrationshintergrund haben, sehr hübsch sind oder eben auch Bauernkinder. Wobei – wenn mehrere Bauernkinder in einer Klasse sind, werden sie in der Regel nicht gemobbt.

Da Mobber immer Mitläufer haben, handelt es sich nicht um einen Konflikt zwischen zwei Personen, sondern um ein Problem, das die ganze Klasse betrifft. Man muss der Klasse klar machen, dass Mobbing nicht toleriert wird. Es können beispielsweise Verhaltensregeln festgehalten werden, die alle Schüler unterschreiben. Es wäre ausserdem wünschenswert, wenn Mobbing in der Ausbildung von Lehrern stärker behandelt würde. Lehrer müssen Mobbing erkennen können und Kinder aktiv darauf ansprechen.

Wie häufig wird gemobbt?

Mobbing ist weitverbreitet. 2017 hatten wir bei der Anlaufstelle «Hilfe 147» 400 Fälle. Das tönt vielleicht nicht nach viel, ist aber für jeden einzeln Betroffenen ein persönliches Drama.

Heute beobachten wir eine Verlagerung zum Cyber-Mobbing: Im Internet und auf sozialen Plattformen wie Whatsapp werden Opfer rund um die Uhr fertig gemacht. Gemäss der «JAMES»-Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) zum Medienverhalten von Jugendlichen, haben rund 22% der befragten Jugendlichen von 12 bis 19 Jahren Cyber-Mobbing erlebt. Dabei werden Peinlichkeiten im Netz geteilt, falsche Profile angelegt oder Jugendliche aus Chat-Gruppen ausgeschlossen. Die falschen Informationen verbreiten sich schnell, das Löschen ist schwierig und die Verfasser sind oft anonym.

Wie erkennen Eltern, dass ihr Kind gemobbt wird?

Viele Mobbing-Opfer ziehen sich zurück, brechen Freundschaften ab oder nutzen die sozialen Medien nicht mehr. Sie haben wenig Energie und keine Lust mehr auf die Schule. Es kann sein, dass die Noten schlechter werden. Bei solchen Anzeichen von Verhaltensänderungen empfehle ich den Eltern unbedingt, ihr Kind anzusprechen und über die Hintergründe zu diskutieren. Denn Mobbing hat grosse Auswirkungen auf die Betroffenen. Das Selbstwertgefühl wird beeinträchtigt, eine Niedergeschlagenheit macht sich breit, die in einer Depression oder sogar in Suizid enden kann. Mobbing-Opfer können langfristig traumatisiert werden.

Interview Esther Thalmann

Urs Kiener ist Kinder- und Jugendpsychologe bei Pro Juventute. Pro Juventute unterhält die Notfallnummer 147. Dort bekommen Jugendliche schnell und unkompliziert Hilfe, auch im Fall von Mobbing.