Als vor einigen Jahren noch Claudio bei uns Hirte war, rief er eines schönen Tages Cristiano an und erzählte ihm eine unglaubliche Story. Emilie, das verwöhnte Kuh-Einzelkind von Frau Colombini, büxte immer aus. Alle Elektrozäune, das schmale Flüsschen Ticino und auch das Eisentor auf der Brücke waren kein Hindernis für die Horntochter. Sie haute jeden Morgen ab und stand pünktlich um 9 Uhr auf der Posthaltestelle in All’Acqua TI. Warum? Wieso denn das? Ganz einfach: Als Papa Strail die Milchlieferantin in die Ferien transportierte, wurde sie auf dem grossen Parkplatz ausgeladen und just in diesem Moment hielt das gelbe Postauto vor dem Lastwagen still. Emilie merkte sich dies und da sie grosses Heimweh nach Frau Colombini hatte, assoziierte sie die Post mit dem Lastwagen von Papa Strail. „Wenn der mich in die Ferien gefahren hat, kann er mich gefälligst auch wieder in den Stall zurückbringen. Capito?“ Und so unternahm Emilie jeden Morgen den kleinen Ausflug nach All’Acqua und jeden Morgen musste Claudio die Kuh wieder holen gehen. Dies hörte erst auf, als man auf Stabbiascio zog.

Auch andere Tiere auf Abwegen

Warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle? Emilie musste ein paar hundert Meter auf der Strasse laufen, um auf den Parkplatz zu gelangen. Die Kuh war und ist nicht das einzige Tier, welches sich auf die Pass-Strasse begibt. Vor der ersten Kurve nach dem Hospitz (Walliser Seite) lebt zum Beispiel Fritzli und seine Familie, eine lustige Murmeltiergruppe. Fritzli steht oft am Wegesrand und schaut dem Verkehr zu. Und die kleinen „Bött“ tun es ihm gleich. Oder Mufti, der Schwarznasen-Schafbock; auch er und seine Herde sind schon ausgerissen und auf der Strasse gelandet. Oder der Tessiner Giachem, der Steinbock und seine stolze Gruppe, welche seit letztem Jahr die grösste Attraktion des Nufenenpasses sind.

Also, liebe Leser, bitte fahren Sie langsam und bedenken Sie, dass diese Tiere auf die Fahrbahn rennen könnten. Geniessen Sie die Passstrasse, die Natur und all unsere Tiere. Aber bitte, bitte rasen Sie nicht einfach durch die Kurven, sei es nun mit Auto, Töff, Velo oder Elektromobil. Nehmen Sie bitte Rücksicht auf Emilies Töchter, auf Fritzli und seine Familie, auf Mufti und die Schafe und auf Giachem und seine Freunde – denn sie könnten plötzlich vor Ihnen stehen. Sie alle kennen die Verkehrsregeln nicht, sondern sind ungeschützt und auf unser wohlwollendes Verhalten angewiesen.

Regula Colombo